Zettels Raum*

[Bottom’s Realm]

Caspar Ehlers Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main ehlers@lhlt.mpg.de

Bei dem anzuzeigenden Werk aus der Feder des emeritierten, einst an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, lehrenden Rechtstheoretikers und Politikphilosophen Larry May handelt es sich eigentlich um das, was im anglophonen Sprachgebrauch als Reader bezeichnet wird: eine breit angelegte Übersicht über die Rechtsfelder der Periode der doch nicht so finsteren Dark Ages (1) mit einer entsprechenden Auswahl an Quellen. Es schließt in Aufbau und Format an Mays Ancient Legal Thought (Cambridge 2019) an und soll dort bereits angerissene Fragen über die Fortentwicklung des Rechts und des politischen Denkens in der Epoche zwischen dem Ende der Antike und dem Beginn der Renaissance weiterführen (1). Die gewählte Methode »is largely comparative in two senses«: Der Autor vergleicht Ideen von einer Gesellschaft mit Ideen derselben Gesellschaft in einer späteren Zeit sowie Ideen einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit mit Ideen zum gleichen Gegenstand in einer anderen Gesellschaft derselben Zeit (1f.) und erfüllt damit die Anregungen Marc Blochs aus dem Jahr 1928.1 Zugleich will er sich nicht auf ›den Westen‹ beschränken, sondern west-östliche Ebenen des Vergleiches eröffnen (2).

»In this sense this work is meant to be multicultural and hence we find significant treatment of Islamic legal and political thought as well as that of Indigenous legal and political thought in the Americas and Africa at the end of the Medieval period« (2).

Zu diesem Behufe hat May das Werk in vier Teile und einen Anhang gesondert, die jeweils in Sektionen gegliedert sind: Part A: Germanic Law and Byzantium: Section I. Justice and Jurisdiction, Section II. Legal Personhood and Status, Section III. Criminality: Individual and Collective, Section IV. War and Peace; Part B: Islamic and Canon Law: Section V. Divine and Natural Law, Section VI. Legal Status, Section VII. Crime and Punishment, Section VIII. Justifying War; Part C: English Common Law and Early Icelandic Law, Section IX. Substantive and Procedural Law, Section X. Status, Section XI. Criminal Law, Section XII. International Law; Part D: Neo-Aristotelian Jurisprudence: Section XIII. Natural Law, Equity, and Procedural Law, Section XIV. Status and Criminality, Section XV. International Law; Appendix: Indigenous Law in the Americas and Africa.

Jede dieser Sektionen ist in mehrere Kapitel gegliedert (insgesamt sind es 35), die ihrerseits in einzelne schlagwortartige Unterkapitel eingeteilt sind. So ist das Inhaltsverzeichnis (v–xiii) zugleich auch eine gute Hilfe zur Orientierung innerhalb des Buches, zumal die meist vier Kapitel einen komparatistischen Zugang im Sinne der Einleitung ermöglichen.2 |

Dass Teil A mit »Germanic Law« überschrieben ist und dieser Terminus konsequent angewendet wird, erklärt Larry May damit, dass »barbaric« pejorativ sei, und in diesem Sinne wolle er auch den Begriff »pagan« bei außerchristlichen Religionen vermeiden, »but refer to the various Germanic views of religion« (3). Das Faszinierende an den Germanen sei, dass sie erst nach dem Kontakt mit den von ihnen verdrängten Römern begonnen haben, eigene Gesetze zu schreiben (3f.), die Leges Barbarorum – wie der Rezensent, dem ein verallgemeinernder Germanenbegriff doch suspekt bleibt, sie weiterhin nennen möchte.

Dies waren übrigens die beiden einzigen Anliegen des Autors in der kaum anderthalb Seiten umfassenden Einführung zu Teil A, was sich wiederum mit der Beobachtung deckt, dass die Eigentexte generell recht kurz und auch anmerkungsarm sind. Dieser Befund spiegelt sich im angesichts der umfassenden Thematik recht sparsam ausgefallenen Literaturverzeichnis (518–530), das Quellen und Forschungsliteratur ungetrennt aufführt, wobei die Quellen gegenüber der – rein englischsprachigen Literatur – überwiegen; auch die vor wenigen Jahren auf Deutsch geführte intensive Debatte über den Germanen- versus den Barbarenbegriff scheint nicht rezipiert worden zu sein. Die einzelnen Unterkapitel sind in der Regel nicht länger als drei oder vier Seiten. Sie bieten jeweils mehrere Quellenzitate, die durch Kommentare des Verfassers miteinander verbunden werden, ohne dass sie quellenkritischer oder forschungsgeschichtlicher Kritik ausgesetzt werden. Daher entsteht eher eine Art zitatgestützter Erzählung, bei der die Trennung der Bereiche legal und political thought nicht immer einfach nachzuvollziehen ist. Die herangezogenen Texte stehen gewissermaßen für sich selbst in einer Art positivistisch-musealer bricolage, Fragen nach Norm und Praxis werden an sie nicht gestellt. So entzieht sich das Kompendium durch seine innere Struktur der Möglichkeit einer detaillierten Analyse im Rahmen einer herkömmlichen Rezension.

Über Notwendigkeit und Nutzen eines solchen Florilegiums lässt sich trefflich streiten. Vermutlich als Grundlage für Vorlesungen gesammelte Quellenzitate ergeben einen geordneten Zettelkasten, der durch seine Ausschüttung unter dem flackernden Licht eines Stroboskops durchaus faszinierend wirken kann. Intensive Beschäftigung mit den kurzfristig aufleuchtenden Quellen sowie ihren im Dunkeln verbleibenden Hintergründen inklusive der bisherigen internationalen Forschungen zu ihnen ersetzt dieser Reader jedoch nicht. Aber er regt an, wie der Besuch einer Ausstellung mit Zitaten statt Bildern, und das ist nicht wenig.

Notes

* Larry May, Medieval Legal and Political Thought. From Isidore and the Quran to Maimonides and the Incas, New Castle upon Thyne: Cambridge Scholars Publishing 2022, 545 S., ISBN 978-1-5275-7582-0

1 Marc Bloch, Pour une histoire comparée des sociétés européennes, in: Revue de synthèse historique 46 (1928) 15–50. Auch in deutscher Übersetzung in: ders., Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, hg. von Peter Schöttler, Frankfurt am Main 2000, 122–159.

2 Das Inhaltsverzeichnis, das hier nicht in Gänze ausgebreitet werden kann, findet sich im Internet: https://www.cambridgescholars.com/resources/pdfs/978-1-5275-7582-0-sample.pdf (abgerufen am 17. April 2023).