Aldo Schiavone verfolgt sein Projekt »Scriptores iuris Romani« seit 2015 mit Unterstützung durch einen European Research Grant. Das Ziel des Projekts wird im Internet folgendermaßen beschrieben: »Lo scopo che il progetto intende realizzare è creare le basi, testuali e interpretative, per un nuovo approccio a ciò che resta delle opere degli antichi giuristi romani.« Aus dieser Arbeit sind bereits zahlreiche Veröffentlichungen hervorgegangen. Das zu besprechende Buch versammelt Aufsätze, die sich mit dem Forschungsansatz beschäftigen oder diesen Zugang anwenden. Im ersten Teil »Methods and Paths« wird die methodologische Perspektive in den wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungsgang eingeordnet, während im zweiten Teil »Stories of Jurists and of Jurisprudence« Untersuchungen präsentiert werden, die einen projektspezifischen Zugang zur Überlieferung des römischen Rechts bieten.
Im 1. Kapitel stellt Schiavone das Projekt in seinen Grundzügen vor. Nicht die Gesetzgebung Justinians, sondern die römischen Juristen sollen in den Mittelpunkt gerückt werden. Ihre Individualität und ihre historische Situation sollen so gut wie möglich erfasst werden. Grundlagen für diese Untersuchung und für den Versuch, die ursprüngliche historische Gestalt ihrer Werke zu rekonstruieren, sind der kritische Apparat der Digestenausgabe von Mommsen und die Palingenesie von Lenel. Schiavone führt aus, dass die wahre Geschichte der Entwicklung des römischen Rechts mit günstigen Auswirkungen auf die gegenwärtigen Herausforderungen für das Recht in einer globalisierten Welt entdeckt und ins Licht gerückt werden könne. Für diese Geschichte seien zwei Aspekte der Tätigkeit der Juristen zentral: die Erfindung einer Wissenschaft und die Gestaltung eines Rechtssystems, das ein globales Imperium |geleitet habe. Zwei Hindernisse, die in der Vergangenheit die Forschung blockiert hätten, macht Schiavone aus: die fragmentarische, durch Veränderungen der ursprünglichen Texte zugleich umgestaltete Überlieferung und die verbreitete Annahme, die römischen Juristen seien »fungible Personen« (Savigny) gewesen. Dem ersten Hindernis könne die Abkehr von der Interpolationistik entgegengestellt werden; das zweite Hindernis sei mit der Annahme verknüpft, es gebe in den Texten zeitloses Recht. Dem sei die Historizität des Rechts entgegenzusetzen und damit eine Offenheit zu gewinnen, um die individuellen Leistungen wahrzunehmen und zu würdigen. Die Wiederentdeckung der Juristen sieht Schiavone als einen vielversprechenden Weg an, der Erforschung des römischen Rechts einen Platz im Zentrum des modernen Denkens wiederzugewinnen, das auf der Suche nach globalen Regeln die zugrundeliegende Wissenschaft einbeziehen und zugleich den für Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit notwendigen Konsens beachten müsse.
Dieses Programm greift Massimo Brutti im 2. Kapitel für die Wissenschaftsgeschichte auf, die er als unvollendeten Übergang von einer Geschichte juristischer Dogmatik zu einer Geschichte der römischen Juristen erörtert. Er richtet seinen Fokus auf den Widerstreit zwischen einer systematischen Wahrnehmung des römischen Rechts seit Leibniz, die eine Dogmengeschichte im Gefolge gehabt habe, und einer historische Umstände berücksichtigenden, die Individualität der Juristen ernst nehmenden, mit Kontinuitäten und Brüchen in der Argumentation rechnenden Betrachtung auf der anderen Seite. Die Hypothese, dass noch heute die dominierende Richtung der Forschung eine dogmengeschichtliche, ein System voraussetzende sei, bildet den erklärten Ausgangspunkt. Zugleich wird diese Richtung als Gegenbild zu der Erforschung von Juristenbiographien, einzelner Juristenschriften und unterschiedlicher Methoden sowie einer umfassend verstandenen Kontextualisierung akzentuiert. Brutti verzeichnet für das 19. und 20. Jahrhundert eine Zunahme an historischen Studien, die zu einer Geschichte der Juristen und ihrer Ideen wichtige Beiträge geleistet hätten. Er konstatiert eine Abwendung von der Annahme von Rechtsfiguren a priori und eine Hinwendung zu einer historischen Kontextualisierung inklusive einer »vorjuristischen Mentalitätsgeschichte«.1 Die Arbeiten von Schiavone hätten die Diskussion für die Geschichte der Argumentationen der römischen Juristen geöffnet. An die Stelle der Dogmengeschichte träten »molekulare Untersuchungen« normativer Lösungen.
In Kapitel 3 wendet sich Emanuele Stolfi unter der Überschrift »›Kunstgeschichte‹ and ›Künstlergeschichte‹. The Problem of Literary Genres in the Roman Legal Literature« einer kritischen Analyse von Motiven und Konsequenzen der Lehre von Fritz Schulz zu, nach der die Forschung sich der römischen Rechtswissenschaft widmen solle und dabei keine individuellen Biographien, aber doch Literaturtypen eine Rolle spielen könnten. Im Ergebnis hält Stolfi literarische Traditionen und deren Besonderheiten für einen Aspekt der Vielfalt, den es zu erforschen gelte.
Im 4. Kapitel sind es die Geschichtlichkeit des Rechts und das ius controversum, die Andrea Lovato im Werk von Riccardo Orestano und seinem Schüler Luigi Raggi in den Mittelpunkt stellt. Die Gleichsetzung der Geschichtlichkeit des Rechts mit der Wissenschaft vom Recht erhalte durch die Hervorhebung der konkreten historischen Situation einen soziologischen Charakter. Das täglich produzierte Recht (Pomponius) werde als rechtswissenschaftliche Tätigkeit verstanden, die Interessenkonflikte auf der Grundlage von Fallanalysen lösen wolle. Raggi sehe Techniken und Methoden der römischen Juristen als Beispiele problemorientierten Denkens, die als ein in der Geschichte vorhandener Zugang zum Problem der juristischen Methode überhaupt wertvoll seien. Eine wesentliche Komponente sei die stete Auseinandersetzung mit konkurrierenden Ansichten.
Das 5. Kapitel schließt den ersten Teil mit einer Studie von Clifford Ando ab. Er bietet einen Überblick über die Rolle des römischen Rechts und der römischen Juristen in der amerikanischen Rechtskultur. Zwischen 1790 und 1980 unterscheidet er verschiedene Phasen und Perspektiven. Der Einfluss auf die amerikanische Verfassung und auf Teile des Privatrechts seien bekannt. Einem nachlassenden Interesse in der zweiten Hälfte des |19. Jahrhunderts folgte ein Aufschwung, der durch die Rechtsvergleichung begünstigt wurde. Ando weist auf die geringe Zahl der Vertreter römischen Rechts in der akademischen Lehre der law schools von 1900 bis 1980 hin. Die Historiker hätten wichtige Beiträge zu Themen der römischen Rechtsgeschichte und ihres Nachwirkens geleistet.
Im zweiten Teil bietet Oliviero Diliberto in Kapitel 6 eine Studie zu dem Themenfeld von Recht und Literatur. Die Heranziehung von literarischen Texten zur Anreicherung von Informationen über juristische Themen sei seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet, doch fehle es an einer systematischen Untersuchung. Anhand von Beispielen macht Diliberto deutlich, dass ein facettenreicheres Bild entsteht, wenn man die literarische Überlieferung heranzieht.
In Kapitel 7 folgt eine Untersuchung von Fara Nasti, die sich auf die von Pomponius verfasste Rechtsgeschichte stützt und fragt, in welchem Maße für diesen Text Einflüsse griechischer Philosophie nachgezeichnet werden können. Sie plädiert dafür, dass Struktur und Inhalt Einflüsse von Aristoteles und Polybios erkennen ließen. Daraus gewinnt sie Argumente für Originalität und Komplexität der Schrift des Pomponius.
Giuseppe Falcone steuert im 8. Kapitel einen Beitrag zur Interpretation des Verhältnisses von officium, beneficium und commodare bei, die er anhand von D.13,6,17,3 Paulus lb.29 ad ed. entwickelt. Die zweifache Bezugnahme auf officium als moralische Pflicht und als rechtliche Verpflichtung wird bezüglich einer Leihe diskutiert. Falcone stellt heraus, dass Paulus der moralischen Seite eine größere Aufmerksamkeit geschenkt habe als andere Juristen. Zugleich weist er nach, dass officium bei anderen Juristen und bei Paulus auch im Sinne einer Rechtspflicht verwendet werde. Diese juristisch-technische Argumentation werde von Paulus im Zusammenhang der actio commodati contraria eingesetzt. Doch behalte der Begriff eine moralische Dimension bei. Die Individualität von Paulus und einer von ihm besonders gepflegten ethischen Perspektive soll anhand weiterer Fallstudien aufgezeigt werden.
Valerio Marotta stellt in seinem Beitrag in Kapitel 9 die Frage, wie man das juristisch-politische Denken der Kaiserzeit im Zusammenhang mit dem römischen Herrschaftsverständnis und mit der politischen wie der rechtlichen Einordnung des Imperium Romanum interpretieren sollte. Ein territorialer Bezugspunkt von Herrschaft spiele eine Rolle wie auch die Verleihung des römischen Bürgerrechts. Wichtig sei die Ausweitung der Möglichkeit gewesen, römisches Recht auch in Städten anzuwenden, die nicht den Status einer römischen Stadt hatten. Auf diesem Weg sei das Recht zu einem Instrument der Integration von rechtlich, ethnisch und sprachlich verschiedenen Bevölkerungsgruppen transformiert worden.
Kapitel 10 bietet eine Studie von Dario Mantovani: »Aspects of the Critical Edition of Roman Juristic Works. The Example of Ulpian’s De Officio Proconsulis«. Für die beispielhaft herangezogene Schrift ist der Plan, eine Annäherung an das Werk Ulpians zu erreichen, aussichtsreich, weil es größere Teile gibt, die auf andere Weise überliefert sind. Als Grundlage für kritische Editionen sind nach Mantovani die Edition der Digesten von Mommsen und die Palingenesie von Lenel zu verwenden. Bei einer neuen Edition einzelner Schriften sei die komplexe Überlieferungsgeschichte der Digestenhandschriften ebenso zu beachten wie die vorjustinianische Überlieferung. Die mehrstufige Arbeit am Text sei zugleich im Lichte einer vermuteten individuellen Darstellungsart von Ulpian wie des rechtlichen Inhalts zu leisten. Gelinge es, die Originalschriften in einer authentischeren Weise zu rekonstruieren, eröffne dies auch die Möglichkeit, sie als literarische Zeugnisse wahrzunehmen und zu interpretieren.
Detlef Liebs ordnet im 11. Kapitel das Codex-System als ein Zeichen der Neuorganisation des Rechtsstoffes in der Spätantike ein. Er zeigt auf, dass zwischen zwei verschiedenen Codex-Systemen unterschieden werden müsse. Die Veränderung gegenüber dem Digestensystem, das auf den Ediktskommentaren aufbaute und neues Gesetzesrecht als Annex aufnahm, sei von den Juristen in diokletianischer Zeit im Codex Gregorianus und im Codex Hermogenianus durch die Integration von Teilen aus dem Annex in den ersten Teil verändert worden. Dem Codex Theodosianus habe ein verändertes System zugrunde gelegen, weil die politischen Verhältnisse sich im Sinne des spätantiken Absolutismus verändert, zu einem höheren Anteil des öffentlichen Rechts geführt und dessen Einfluss auch im Privatrecht verstärkt hätten. So sei es zu einer Rückführung von Materien in den zweiten Teil gekommen. Justinians Codex erweise sich als eine Mischung aus beiden Systemen. Im Codex seien alle Materien der Gegenwart aufgenommen worden, in den Digesten nur wenig öffentliches und kein kirchliches Recht. |
Es ist ein großes Panorama, das in dem Buch ausgebreitet wird. Die Beiträge sind davon geprägt, die Erforschung der Individualität der römischen Juristen und damit eine weniger beachtete Ebene der Überlieferung des römischen Rechts in ihrer Bedeutung herauszustellen. Diese Untersuchungen scheinen mir einen wichtigen Aspekt zur Erforschung der Rechtstexte beizusteuern. Ein Grundproblem der wissenschaftsgeschichtlichen und zugleich wissenschaftspolitischen Argumentation besteht aber in der Gleichsetzung einer Geschichte der Dogmatik mit einem Wahrheitsanspruch oder mit dem Anspruch, ein monolithisches klassisches Recht als Ideal zu ermitteln. Der Reiz des römischen Rechts liegt in der Erforschung einer Vielzahl von Aspekten, bei denen aber die Bemühungen um eine kohärente Systematik nicht vernachlässigt werden sollten. Folgt man den Hinweisen in den Quellen, dass die römischen Juristen verschiedene Erklärungsmuster für ihre Rechtsordnung und für deren Weiterentwicklung zugrunde gelegt haben, kann man sich von dem Feindbild der Geschichte zeitloser Dogmen lösen. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit waren dem römischen Recht auch aufgrund seiner verschiedenen Schichten eigen. Das prätorische Recht spielte für mehrere Jahrhunderte eine wichtige Rolle. Das Konzept des ius gentium, das von seinem Allgemeingültigkeitspotential lebt, wäre in das Bild einzuordnen, unabhängig davon, ob es aus einem Naturrechtsgedanken gewonnen wurde oder auf einer zivilisationsrechtlichen Grundlage aufgebaut war. Geschichtlicher Entwicklung unterlag auch dieses Element, wie die Lektüre der Juristenschriften belegt. Die Schriften laden mit der selbst gepflegten Geschichtlichkeit, den Kontroversen und den Kompromissen (mediae sententiae) dazu ein, Entwicklungen nachzuzeichnen, Individualitäten zu beschreiben und eine historische Kontextualisierung zu leisten. Der Nutzen einer planvollen Untersuchung von Juristenbiographien und -schriften wird gerade darin liegen können, individuelle Beiträge zu diesem Recht besser zu verstehen und in Denkpfade einzuordnen. Anregungen dazu wären den Arbeiten von Okko Behrends zu entnehmen, die zeigen, wie man eine umfassende Historizität mit einer gehaltvollen Dogmatik und der Erforschung ihrer Geschichte verbinden kann.
* Fara Nasti, Aldo Schiavone (Hg.), Jurists and Legal Science in the History of Roman Law, transl. by Peter Christie (Routledge-Giappichelli Studies in Law), London/Turin: Routledge/Giappichelli 2022, 318 S., ISBN 978-0-367-33333-1
1 Übersetzungen aus dem Englischen hier und im Folgenden von der Rezensentin.