Cicerone der Regeln*

[The Cicerone of Rules]

Daniel Damler Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main damler@lhlt.mpg.de

Sie sind allgegenwärtig, unentbehrlich und von einer geradezu überbordenden Vielfalt; sie begleiten uns von der Wiege bis zur Bahre; kein Gemeinwesen, keine Zivilisation in der Geschichte der Menschheit kam ohne sie aus und doch hatten sie nie genau den gleichen Inhalt und Zuschnitt: Regeln. Fast unmöglich ist es bereits, auch nur das staatliche Recht zu überblicken, ganz zu schweigen von den Myriaden von impliziten Regeln, die unseren Alltag strukturieren, ohne dass wir ihnen gewöhnlich viel Beachtung schenken – sei es der richtige Umgang mit Messer und Gabel, die angemessene Anrede im Brief oder das Maß der Normenübertretung (etwa im Straßenverkehr), das (noch) nicht sanktioniert wird.

Auf einem so gewaltigen Ozean angstfrei und unbekümmert zu navigieren, ist schon für sich genommen eine beachtliche Leistung. Die Einhegung der eigentlich unbegreiflichen Mannigfaltigkeit gelingt der erfahrenen, mit den Strömungen und Untiefen ihres Sujets bestens vertrauten Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston mittels einer anderen Kulturtechnik, die unser Dasein ebenfalls ordnet und erträglich macht: der Kunst der Unterscheidung. An Differenzierungen ist allen voran das einleitende Kapitel reich, um nicht zu sagen: überreich. Der zu Anfang etwas überforderte Leser muss zur Kenntnis nehmen, dass es nicht nur explizite und implizite Regeln gibt, sondern auch flexible und rigide, generelle und spezielle, ferner solche algorithmischer und paradigmatischer Natur.

Und das ist längst nicht alles. Auch »dick« und »dünn« können Regeln sein. Erstere zeichnen sich durch Anschaulichkeit und Anpassungsfähigkeit aus, sind angereichert mit Beispielen und Ausnahmen, letztere tragen lebensweltlichen Besonderheiten hingegen gerade keine Rechnung und sind strikt anzuwenden. »Dicke« und »dünne« Regeln existieren seit unvordenklicher Zeit Seite an Seite, doch nach Dastons Ansicht dominieren die »dünnen« Algorithmen erst seit dem 19. Jahrhundert, dem bürgerlich-technischen Zeitalter, während in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit die Neigung zu »barocken«, vielgestaltigen, detailversessenen, indes nachsichtigen Handreichungen und Belehrungen vorherrschte.

Eine weitere, diesmal dreiseitige Unterscheidung nimmt die Verfasserin im zweiten Kapitel vor, verschiedene Bedeutungsebenen (»semantic clusters«) der antiken Schlüsselbegriffe kanon und regula herausarbeitend: Etymologisch leitet sich kanon von der Pflanze »Arundo donax« ab, dem in (sub-)tropischen Gefilden beheimateten Pfahlrohr oder Riesenschilf, das im Altertum als Baumaterial, aber auch – aufgrund der Ebenmäßigkeit der Halme – als Messinstrument Verwendung fand. Ähnlich verhält es sich mit dem lateinischen Äquivalent regula, das ebenfalls ursprünglich ein Stück Holz, ein gerade zugeschnittenes Brett, bezeichnet, das sich als Lineal gebrauchen ließ. Früher oder später musste sich die Vorstellung von äußerster Genauigkeit, ja mathematischer Exaktheit mit den Begriffen verbinden. Das ist die erste Bedeutungsebene, die ungefähr dem »algorithmischen« Verständnis von Regeln entspricht. Die frühen Christen im griechischsprachigen Osten des Römischen Reiches bezogen dann das Wort kanon auf die Beschlüsse ihrer Synoden und anderer autorisierter Versammlungen, so dass sich als weitere Bedeutungsnuance das »Recht« hinzugesellte. Daston betont, dass diese Entwicklungslinie vom Messinstrument des Baumeisters zu den Regelwerken der Juristen heute noch assoziativ gut nachvollziehbar sei, besser jedenfalls als die Verbindung zum semantischen Feld »Nachahmung, Modell, Paradigma«, das den Dreiklang komplettiere.

In diesem Sinn, nämlich als Vorbild, sei die Regel indes lange Zeit (bis zum Beginn der Moderne) vornehmlich verstanden worden. Die Autorin, in dem Bemühen, gerade das uns heute Fremde zu beleuchten, schenkt den »dicken Regeln« der frühen Neuzeit, die zur Nachahmung anleiten wol|len, besondere Beachtung. Hierzu gehört etwa die aus juristischer Perspektive zunächst etwas befremdliche Gattung der Kochrezepte. Am Beispiel des Kochbuchwissens illustriert Daston, wie sich der Übergang vom impliziten zum expliziten Wissen vollzieht. Diese beiden Arten von Wissen seien eben nicht, wie manche moderne Autoren suggerieren, statische Kategorien, sondern eher flüchtige Aggregatzustände. Da sich die Kochrezepte des 17. Jahrhunderts vorwiegend an den Spezialisten, an den professionellen Koch, richteten, bedurfte es keiner ausführlichen Beschreibung der vorzunehmenden Handgriffe. Anders dann im 18. Jahrhundert, als zunehmend auch weniger versiertes Hauspersonal Kochbücher konsultierte: Angehende Köche bedurften anderer, weitaus detaillierterer Regeln; das betraf weniger die Mengenangaben als das Wissen über die einzelnen Schritte der Zubereitung (z.B. eines Puddings).

Wie defizitär eine Geschichte menschlicher Regeln und Normen ohne eine Beachtung der ungeschriebenen normativen Subkultur wäre, führt der chronische Misserfolg der Aufwand- oder Luxusgesetzgebung vor Augen. Im direkten Wettbewerb zwischen ästhetischen Standards – also das, was wir bei Kleidung »Mode« nennen – und dem »harten«, von der Obrigkeit bekannt gemachten und notfalls gewaltsam durchzusetzenden Recht zog Letzteres eigentlich fast immer den Kürzeren. Es ist sogar wahrscheinlich, dass die verzweifelten Versuche der Regierenden, das Ende jeder Eitelkeit und Verschwendung zu dekretieren, genau das Gegenteil bewirkten. »No Vogue editor ever covered the catwalk in more precise detail than sumptuary regulations did at their zenith«(161). Doch je mehr Mühe man sich gab, desto schneller wechselte die Mode und desto extravaganter wurde sie. Der 1587 per Anordnung aus der Öffentlichkeit verbannte Hut mit Pfauenfedern war zu dem Zeitpunkt ohnehin schon längst »sowas von 1586«.

Wie Daston richtig bemerkt, sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, jene »sumptuary regulations« gehörten ein für alle Mal der Vergangenheit an. In Zeiten, in denen Ressourcenverschwendung und klimaschädliches Verhalten (zu Recht) am Pranger stehen, fällt die Forderung nach gesetzlichen Verboten auf fruchtbaren Boden. Der Erfolg solcher Initiativen dürfte sich in Grenzen halten, zumal im globalen Maßstab. Dass es gute, den meisten Menschen einsichtige Gründe für Sparsamkeit und Enthaltsamkeit zum Besten der Umwelt gibt, wird daran nichts ändern, denn auch in der frühen Neuzeit hatte die Obrigkeit Vernunft und öffentliche Moral weitgehend auf ihrer Seite. Aber was nützt es, wenn eine der wichtigsten und wirkungsmächtigsten Normenkategorien überhaupt, nämlich ästhetische Standards, zu einem genau entgegengesetzten Verhalten animieren?

Zu den großen Stärken des Buches gehört die Bereitschaft, genau solche Regeln in den Blick zu nehmen: Regeln, die üblicherweise durch alle Raster fallen, nicht etwa, weil sie realweltlich unwichtig wären (alles andere als das), sondern allein weil sie nicht hinreichend institutionell verankert sind – wie die impliziten Reglements der Mode und Esskultur, die in der überkommenen Hierarchie der Wissenschaften zu den »niederen«, intellektuell anspruchslosen Disziplinen und Künsten zählen.

Aus rechtshistorischer Sicht das eine oder andere Haar in der Suppe zu finden, fällt nicht schwer. Insbesondere hätte man vielleicht das Rad nicht überall neu erfinden müssen. In der Gesetzgebungslehre gibt es spätestens seit dem 18. Jahrhundert eine sehr differenzierte und nuancierte Diskussion über die Vor- und Nachteile einzelner Regelungstechniken und -instrumente, die man stärker hätte fruchtbar machen können für andere Arten von Regeln. Und auch beim Umgang mit den Ergebnissen der Policey-Forschung ist noch Luft nach oben.

Aber eine Kritik, die sich in der Klage über die geringe Sichtbarkeit der eigenen Forschung erschöpfte, fiele letztlich auf die Rechtsgeschichte zurück. In der Tat, sie verwaltet ein stolzes Erbe mit großem Erkenntnispotential für andere Wissens- und Lebensbereiche, und Rechtshistoriker wären prädestiniert gewesen, dieses Buch zu schreiben – nur haben sie es eben leider nicht geschrieben.

Eine überzeugende, eine wichtige, eine wegweisende Studie.

Notes

* Lorraine Daston, Rules. A Short History of What We Live By, Princeton (NJ)/Oxford: Princeton University Press 2022, 384 S., ISBN 978-0-691-15698-9