Die Kommentare bestätigen ausnahmslos den Befund meines Buches, dass Verfassung und Verfassungsrechtsprechung in den behandelten historiographischen Werken zu kurz kommen und darunter ihr Erklärungswert für die Phänomene leidet, denen die Historiker Bedeutung beimessen. Auch die Begrenzung auf die Gesamtdarstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte ist von denjenigen Kommentatoren, welche sich dazu geäußert haben, als gerechtfertigt betrachtet worden, auch wenn die Geschichtswissenschaft bei Auswertung der Monographien und Aufsätze möglicherweise in positiverem Licht erschienen wäre (Christoph Schönberger). Anna-Bettina Kaiser kommt allerdings aufgrund ihrer »Probebohrung« bei einem Autor (Ulrich Herbert) zu der Ansicht, dass sich das Gesamtbild dadurch nicht wesentlich ändere.
Die Rechtsferne ist im Buch vor allem auf Wahrnehmungsdefizite und Verständnisschwierigkeiten zurückgeführt worden. Auch die Kommentatoren verweisen überwiegend auf die Schwierigkeiten der Historiker im Umgang mit juristischen Quellen. Rainer Wahl erläutert das ausführlich anhand des Lüth-Urteils, dessen überragende Bedeutung nicht allein innerhalb der Rechtsordnung, sondern auch für die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse er bestätigt. Für Historiker müsse es gerade deswegen besonders interessant sein. Wahl räumt allerdings ein, dass sich die Bedeutung nicht schon aus dem Urteilstext erschließe, sondern nur mit Zusatzwissen erfassbar sei. Anna-Bettina Kaiser steigert diesen Befund zu der These, Gerichtsurteile seien »für juristische Laien kaum zu verstehen«. Der Verfassungstext und erst recht die ihn interpretierenden Entscheidungen seien wohl »nur vordergründig« verständlich.
Dass diese Schwierigkeiten bestehen, wird auch im Buch nicht bestritten. Man sollte aber differenzieren. Die Schwierigkeiten sind geringer, wenn es sich um die Genese (die jedoch nach Christian Waldhoff untererforscht ist) sowie die Funktion von Verfassungsnormen einschließlich ihrer Änderungen handelt. Diese fallen in den Bereich der Rechtspolitik, nicht der Rechtsanwendung. Die Schwierigkeiten wachsen aber, sobald es um die Anwendung der generellen und abstrakten Verfassungsnormen auf individuelle und konkrete Streitfälle, also im Wesentlichen um Rechtsprechung geht. Doch sind die Hürden auch hier unterschiedlich hoch. Nicht alle Urteile setzen so viel Zusatzwissen voraus wie Lüth (wo es allerdings durch ein Gemeinschaftsprojekt von Historikern und Juristen aufbereitet war und seit 2005 abgerufen werden konnte). Pascale Cancik, Eckart Conze und Rainer Wahl weisen überdies daraufhin, dass viele Urteile zwar schwer lesbar seien, sich aber, wenn erfasst, leicht in die historischen Darstellungen integrieren ließen.
Ich möchte jedoch daran festhalten, dass die Verständnisschwierigkeiten erst eine Rolle spielen, wenn die Relevanz des Rechts für geschichtliche Zustände und Verläufe überhaupt wahrgenommen ist. Das scheint mir jedoch nur bedingt der Fall zu sein, bei einigen Autoren mehr, bei anderen weniger, doch nirgends ausreichend. Wo rechtliche Phänomene in den geschichtlichen Darstellungen Berücksichtigung finden, ist ihre Wahrnehmung nicht von dem generellen Bewusstsein der Möglichkeit prägender Einflüsse des Rechts geleitet, sondern punktuell durch besonders auffällige Vorkommnisse veranlasst: einen Skandal, eine herbe politische Niederlage, eine tief greifende politische Auseinandersetzung, die mit einem Karlsruher Urteilsspruch endet.
Ingrid Gilcher-Holtey, die von der Relevanz der Verfassungsgeschichte für die Allgemeine Geschichte ausgeht, sieht das Problem in der Operationalisierbarkeit und mahnt an, dass es dafür eines methodisch-theoretischen Bezugsrahmens bedürfe, der den Historikern fehle. Sie verbindet diese Erklärung für das mangelnde Bewusstsein von der sozialen und politischen Relevanz des Rechts mit dem Theorieangebot der Historischen Soziologie Pierre Bourdieus. Eine solche Theorie vermisst sie aber auch im Buch. Was Bourdieu angeht, trifft das zu. Das Verhältnis von Recht und Politik wird allerdings im Ersten Kapitel analysiert, und zwar mit dem Ergebnis, dass das Recht keines der vielen Nebengebiete der Allgemeinen Geschichte ist, welche Historiker berücksichtigen können, aber nicht |müssen, sondern als Determinante für Politik nicht übergangen werden kann. Im Anhang wird das im Blick auf den Analyserahmen von Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte weitergeführt.
Unter den Kommentatoren gehen Jürgen Kocka und Rainer Wahl darauf ein und greifen die Frage auf, ob Recht in eine Reihe mit den Dimensionen Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur gehört, deren Relevanz für die politische Geschichtsschreibung inzwischen anerkannt ist. Wahl bejaht das uneingeschränkt (»kein Nebengebiet«), Kocka zögert und äußert die Vermutung, dass es dann wohl nicht allein beim Recht bleiben könne. Als weiteren Kandidaten nennt er die Wissenschaftsgeschichte, weil die Wissenschaft der »Treiber des Wandels« sei. Das trifft zweifellos zu. Ein erheblicher Teil der Probleme, die politische Bearbeitung verlangen, sind durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und seine kommerzielle und militärische Nutzung verursacht. Wissenschaftsgeschichte hat damit eine höhere Anwartschaft auf Berücksichtigung als beispielsweise Architekturgeschichte. Als Veranlasser und Gegenstand politischer Entscheidungen steht sie meines Erachtens aber doch hinter dem Recht mit seiner struktur- und inhaltsbestimmenden Bedeutung für die Politik zurück.
Mehrere Kommentare, die von der Rechtsferne der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik ausgehen, suchen die Ursache dafür aber nicht allein bei den Historikern, sondern stellen auch eine Geschichtsferne der Juristen fest (Cancik, Conze, Kocka). Eine juristische Verfassungsgeschichtsschreibung, die den Historikern entgegenkomme, fehle. Diese Ansicht teile ich. Mein Buch sollte dazu einen Beitrag leisten. Es kann aber eine historisch anschlussfähige Verfassungsgeschichte nicht ersetzen. Eine solche müsste insbesondere die Verwirklichungsgeschichte, vornehmlich durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, als einen vom Verfassungstext zwar angeleiteten, aber nicht vollständig determinierten Beitrag würdigen. Indessen hat die Historisierung der Judikatur in der verfassungsgeschichtlichen Forschung gerade erst begonnen.
In den Kommentaren wird die Frage aufgeworfen, ob die Historisierung der Verfassungsrechtsprechung deswegen von der Rechtswissenschaft zögerlich angegangen werde, weil sie die Autorität der Verfassung und die Legitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit gefährden könne, indem sie die Kontingenz der Rechtsprechung offenbare und so die Erwartung an die Objektivität der Verfassungsauslegung enttäusche. Pascale Cancik wagt sogar die These, dass die Geschichtsferne eine Funktionsbedingung für die Wirkungsweise des Rechts sei. Meines Erachtens kann es am Ende jedoch nicht hilfreich sein, die Akzeptanz eines Verfassungsgerichts und seiner Rechtsprechung auf einer Illusion wie der von der Eindeutigkeit des Rechts aufzubauen. Die unvollständige Determinationskraft von Rechtsnormen, namentlich von Verfassungsnormen, gehört zum Recht und muss ehrlicherweise mit vermittelt werden.
Damit erweitert sich allerdings das Beobachtungsfeld. Das Interesse richtet sich nicht mehr nur auf die Ergebnisse, sondern auch darauf, wie sie zustande kommen und wer die Autoren der Entscheidungen sind. Mehrere Kommentare wünschen sich Richterbiografien von der Verfassungsgeschichtsschreibung. Einblick in die Beratungen der Richter durch Offenlegung der Akten ist eine weitere Forderung der Geschichtswissenschaft, die Conze erneut erhebt. Von da ist der Schritt zur Frage nach den politischen Einflüssen auf die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht mehr weit. Birgit Aschmann tut ihn konkret anhand der Abtreibungsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der Rolle, welche die Katholische Kirche dabei spielte.
Mehreren Kommentatoren kommt diese Seite des Verhältnisses von Verfassungsrecht und Politik im Buch zu kurz. Das Verhältnis sei kein einbahniges, sondern ein wechselseitiges (so ausdrücklich Cancik, Conze, Frick, Kocka). Verena Frick vermisst die Frage, inwiefern die Konstitutionalisierung der Politik auf die Verfassung und das Verfassungsgericht selbst zurückwirke. Anknüpfend an die im Schlusskapitel des Buches konstatierte Konstitutionalisierung der Politik, diagnostiziert sie einen Komplementärprozess der Politisierung von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit, nicht in dem kruden Sinn, dass das Gericht unter Absehung vom Recht Partei ergreife, sondern dass es verstärkt zum »Schauplatz politischer Kämpfe« werde und es ihm entsprechend schwerer falle, »seine politische Neutralität und Objektivität« zu behaupten.
Die Frage ist berechtigt. Im Buch wird sie allerdings nur punktuell aufgegriffen, so etwa im Zusammenhang mit den Richterwahlen. Das hängt mit der Zielsetzung des Werks zusammen. Es ging ja darum festzustellen, wo die Geschichtsschrei|bung der Bundesrepublik signifikante Einflüsse der Verfassung oder der Verfassungsrechtsprechung auf die von ihr für wichtig gehaltenen Verhältnisse, Entwicklungen und Ereignisse außer Acht gelassen hat. Dieses Erkenntnisinteresse begrenzt das Buch. Darin liegt aber keine Leugnung der gegenläufigen Einflussbahn. Wie Verena Frick selber zu erkennen gibt, sind für diesen Aspekt primär jedoch die empirisch vorgehenden Disziplinen, ihre eigene, aber auch die Geschichtswissenschaft, zuständig, während die Rechtswissenschaft aufgrund ihrer dogmatischen Arbeitsweise nicht der bestgeeignete Akteur sei, das »Politikum der Prozesse« selbst zu durchschauen.
Für Hans Vorländer muss es dann allerdings mehr um Geltungs- als um Wirkungsgeschichte gehen. »Geltung« bezieht sich hier jedoch auf etwas anderes als die juristische Geltung einer Verfassungsnorm, die von ihrer tatsächlichen Beachtung unabhängig ist. Vorländer hat den Prozess der ständigen Behauptung und Aktualisierung des Verfassungsrechts im Sinn, in dem es seine Geltung erst erwerben muss. Damit wird der Rahmen der juristischen Geltung überschritten und der Blick auf denjenigen Bereich eröffnet, in dem vermittels des Mediums der Verfassung gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurse stattfinden, die zwar alles andere als konfliktfrei verlaufen (was in den Kommentaren von Conze, Frick und Gilcher-Holtey zur Forderung nach einer Konfliktgeschichte der Verfassung führt), der Verfassung unter günstigen Bedingungen aber die symbolische Kraft zuführen, welche Voraussetzung für die Akzeptanz ihrer rechtlichen Wirkungen ist. Das Buch enthält viel Material, anhand dessen dieser Frage nachgegangen werden kann. Im Schlusskapitel wird sie ausdrücklich aufgeworfen. Für ihre Beantwortung sind aber sowohl Rechtswissenschaft als auch Geschichtswissenschaft auf die Politikwissenschaft angewiesen, die über das dafür nötige methodologische Arsenal verfügt.
Grundsätzliche Einwände gegen das Buch erhebt nur Christoph Schönberger. Zwar bricht auch er nicht aus dem Konsens der Kommentatoren aus, dass die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik einen für ihren Gegenstand wichtigen Faktor vernachlässige. Darin sieht er die Berechtigung des Buchs. Er findet jedoch, dass es erheblich übers Ziel hinausschieße. Träfe das zu, müsste das Urteil über die Rechtsferne der Zeithistoriker revidiert werden. Ich entnehme seinem Kommentar vier Kritikpunkte. Das Buch idealisiere die Verfassungsrechtsprechung und überschätze ihren Einfluss auf die Geschichte der Bundesrepublik. Es sinne den Historikern an, ihren Stoff »unter den idealisierenden Prämissen der Selbstinterpretation des Rechtssystems« zu behandeln, und es verwende eine ahistorische Methode.
Ich habe mich von der Berechtigung der Kritik aber nicht zu überzeugen vermocht. Was Schönberger dem Buch vorhält, war mir als Gefahr bewusst und sollte ausdrücklich vermieden werden. Es ist freilich denkbar, dass der Vorsatz nicht eingehalten worden ist. Indessen finde ich weder für eine »verfassungsdogmatische Idealisierung« noch für eine Unterwerfung der Historiker unter die »idealisierenden Prämissen der Selbstinterpretation des Rechtssystems« Anhaltspunkte. Man darf annehmen, dass mit Selbstinterpretation des Rechtssystems die Behauptung gemeint ist, es gehe in der Verfassungsrechtsprechung ausschließlich um Rechtsanwendung, nicht um Politik, und »Dogmatik« sei der Garant dafür. »Idealisierend« könnte man diese Beschreibung nennen, wenn sie die Realität verfehlte oder verzerrte, mit dem Ergebnis, dass die Rechtsprechung in einem positiveren Licht dastünde, als sie es verdiente. Das kann entweder bedeuten, dass die Rechtsprechung und die Dogmatik, die dabei eine Rolle spielt, verklärt werden oder dass in der Realität etwas ganz anderes geschieht als Rechtsanwendung, etwa richterlicher Dezisionismus.
Die erste Möglichkeit möchte ich mit dem Hinweis ausschließen, dass es mir in dem Buch nicht um eine Beurteilung oder gar ein Lob der Rechtsprechung ging, sondern um eine Beschreibung, ohne die ihre Wirkung nicht erklärt werden kann. Diese Beschreibung gibt aber auch nicht vor, dass es bei der richterlichen Entscheidung lediglich um die Applikation von Verfassungsnormen auf Einzelfälle gehe. Es wird vielmehr gerade gezeigt, dass dabei Optionen zur Wahl stehen, das Ergebnis also auch ein anderes hätte sein könne, womit in der Regel auch eine andere Wirkung verbunden gewesen wäre. Allerdings handelt es sich um die Wahl zwischen rechtlichen Optionen, die selbst wieder rechtsgeleitet und methodisch vor sich geht, also gerade keine Dezision ist, aber auch nicht bloß ein Nachvollzug von Vorentschiedenem. In eben dieser Differenz liegt der Umstand begründet, dass die Verfassungsrechtsprechung ein relativ eigenständig zum Verfassungstext hinzutretender Faktor ist, der geschichtswissenschaftliche Beachtung verlangt.|
Was die Relevanzkriterien betrifft, so ist im Buch ausführlich dargelegt, dass es diejenigen der Geschichtswissenschaft, nicht die der Rechtswissenschaft sein müssen. Die Kapitel, in denen es um Verfassungsverwirklichung geht, knüpfen stets an Phänomene an, welche den Historikern für ihre Darstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte wichtig erschienen, und untersuchen, ob sie in signifikanter Weise verfassungsrechtlich beeinflusst waren. Bei der Einschätzung der Signifikanz kann es Bewertungsunterschiede geben. Das ist aber etwas anderes als die Oktroyierung disziplinfremder Maßstäbe. Dogmatik-Kenntnis wird der Geschichtswissenschaft nirgends abverlangt. Auch das ist ausdrücklich ausgesprochen. Es wird aber gelegentlich eine dogmatische Begründungskette vorgeführt, damit man sehen kann, auf welchem Weg und mit welchen Annahmen das Gericht zu seinem Urteil gelangt ist.
Über die Legitimität »kontrafaktischer Alternativbetrachtungen« habe ich mich bei der Geschichtswissenschaft zu vergewissern versucht. »Unüblich« scheint sie mir danach nicht zu sein. Sie ist aber nicht etwa meine durchgängige Vorgehensweise. Indessen lässt sich gelegentlich die Wirkung von Verfassungsnormen oder Urteilen nur zeigen, wenn sichtbar gemacht wird, dass es auch anders hätte kommen können. Jedoch trifft Schönbergers Hinweis auf die »Grenzen geschichtswissenschaftlicher Kausalbefunde« zu, die ebenfalls von Kocka betont wird. Sie ist im Buch aber auch ausdrücklich reflektiert. Hypothetische Kausalverläufe müssen, das wird Schönberger ausdrücklich zugestanden, im Bereich realistischer Alternativen liegen. Dafür sind Indizien notwendig. Betrachtet man beispielsweise die für die Liberalisierungsthese der Historiker wichtige Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit, so zeigt die Vielzahl von Entscheidungen der Fachgerichte, die vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wurden, wie es ohne seine Rechtsprechung um diese Freiheiten bestellt gewesen wäre.
Wenn es nicht nur um Addition, sondern Integration von Allgemeiner Geschichte und Verfassungsgeschichte im Sinne Conzes gehen und die symbolische Funktion der Verfassung nicht vergessen werden soll, bleibt freilich – das hat die reiche Frankfurter Diskussion deutlich gemacht – nur die interdisziplinäre Kooperation übrig. Fast alle Kommentatoren fordern sie ausdrücklich. Dass es dafür noch an den institutionellen und zum Teil auch motivationalen Voraussetzungen fehlt, macht vor allem Pascale Cancik deutlich. Es gibt nicht nur ein rechtliches Defizit der Geschichtswissenschaft, sondern auch ein historisches Defizit der Rechtswissenschaft und der Juristenausbildung. Das Bewusstsein der Interdependenz muss sich erst noch bilden.