Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes

[The Making of the Basic Law]

Christian Waldhoff Humboldt-Universität zu Berlin christian.waldhoff@rewi.hu-berlin.de

as zweite Kapitel von »Die Historiker und die Verfassung«, 45–60, nach dem einleitenden Teil über das Verhältnis von allgemeiner Geschichte und Verfassungsgeschichte, ist überschrieben »Entstehung und Regelungsgehalt des Grundgesetzes«. Damit werden auf dem begrenzten Raum von 15 Druckseiten zwei Themen behandelt: Das Entstehen, d.h. die Herstellung der Verfassung, und das Ergebnis dieses Vorgangs, zumindest in seiner Struktur. Diese Zusammenschau liegt aus dem Blickwinkel des Juristen nahe; ich werde jedoch darauf zurückkommen, dass es sich aus Sicht des Allgemeinhistorikers vielleicht doch anders darstellt.

In Bezug auf die Grundthese des Buches gibt es m.E. Besonderheiten speziell dieses Kapitels, die die Grimm’sche Kritik gleichsam umdrehen: Letztlich blendet keine der herangezogenen Handbuchdarstellungen die Entstehung des Grundgesetzes völlig aus (über Umfang und v.a. Qualität wäre sicherlich zu reden); umso erstaunlicher ist es, dass historisch die Entstehungsgeschichte der Verfassung m.E. seltsam untererforscht ist. Schließlich zeigen sich gerade an diesem Kapitel die grundsätzlich unterschiedlichen Herangehensweisen des Juristen und des Historikers paradigmatisch. Das möchte ich im Folgenden erläutern.

1. Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes kommt in jeder historischen Darstellung der Bundesrepublik wie in vielen, wenn auch keinesfalls allen Staatsrechtslehrbüchern vor. Alles andere wäre auch überraschend. Wirklich seriös erforscht erscheint mir die Entstehungsgeschichte jedoch nicht (besonders gelungen, wenn auch nicht im strengen Sinn »wissenschaftlich«, Christian Bommarius, Das Grundgesetz. Eine Biographie, Berlin 2009). Die Erforschung bewegt sich zumindest nicht auf dem Niveau, wie es zur Entstehung der US-amerikanischen Verfassung erreicht ist. Es gibt zwei Überblicksdarstellungen, die als Einführungen im akademischen Unterricht gut geeignet sind (Michael F.Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, überarbeitete Neuausgabe, Göttingen 2019, und Karlheinz Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz. Demokratiegründung in Westdeutschland 1945–1949, Paderborn 1998); hinzu kommen die verdienstvollen, wenn auch etwas erratischen Arbeiten von ErhardH.M.Lange (Die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz, Heidelberg 1993; Gestalter des Grundgesetzes. Die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates. 15 Historische Biographien, Brühl 1999, als wenig anspruchsvolle Veröffentlichung der Fachhochschule des Bundes). Aus den 1960er Jahren wäre noch der Deutsch-Amerikaner Peter H.Merkl zu erwähnen (Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1968). Die Materialien des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee wie des Parlamentarischen Rates sind zwar vom Bundesarchiv systematisch, d.h. nach (Teil-)Organen chronologisch ediert worden (Der Parlamentarische Rat 1948–1949); für die juristisch-praktische Arbeit ist die Edition jedoch recht sperrig. Der erste Band des Jahrbuchs des Öffentlichen Rechts, neue Folge 1951, war eher ein Notbehelf, um in der Frühzeit der Grundgesetzinterpretation arbeitsfähig zu werden (Jahrbuch des Öffentlichen Rechts [n.F.], Bd. 1, Tübingen 1951: Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes im Auftrage der Abwicklungsstelle des Parlamentarischen Rates und des Bundesministers des Innern auf Grund der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, bearbeitet von Klaus-Berto von Doemming, Rudolf Werner Füsslein und Werner Matz; mit Geleitworten der beiden ehemaligen Mitglieder des Parlamentarischen Rates, dem Leiter der Abwicklungsstelle Anton Pfeiffer und des Bundesministers des Innern Robert Lehr). In der Bibliothek des Bundesverfassungsgerichts gibt es eine informelle, ausführlichere nach Grundgesetz-Artikeln geordnete Materialsammlung (Herr Grimm könnte wahrscheinlich darüber mehr berichten). Die von Hans-Peter Schneider herausgegebene, thematisch, nicht chronologisch vorgehende Edition ist ein Torso geblieben – wohl auch weil Fördergelder ausblieben. Mag das dortige Editionskonzept auch diskussionsbedürftig sein, ist es m.E. ein Problem, dass sich die Bundesrepublik als viertgrößte Volkswirtschaft der Erde zwar zu jedem Verfassungsjubiläum recht ideenlose »Bürgerfeste« leisten zu müssen glaubt, aber nicht einmal eine anspruchsvolle Edition ihres so hochgelobten Grundgesetzes großzügig fördern wollte! Nur hingewiesen werden kann etwa auf das in der Bibliothek des Deutschen Bundestages aufgehobene, umfangreiche Manuskript aus der Feder des ehemali|gen Mitglieds des Parlamentarischen Rates und späteren CSU-Bundestagsabgeordneten Josef Ferdinand Kleindinst, der nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag im Auftrag Konrad Adenauers eine Geschichte des Parlamentarischen Rates verfasst hat, die nie gedruckt wurde (vgl. https://www.bpb.de/themen/nachkriegszeit/grundgesetz-und-parlamentarischer-rat/39087/josef-ferdinand-kleindinst-csu/). Kurz und gut: Nach meiner Beobachtung besteht eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Aufwand der historischen Erforschung der Entstehung des Grundgesetzes und seiner überragenden Bedeutung für Staatspraxis wie Staatsidentifikation.

Auch die juristische Seite hat sich hier nicht mit Ruhm bekleckert. Die ohnehin spärlichen Verfassungsgeschichten der Bundesrepublik aus juristischer Feder behandeln hiesiges Thema auch nicht alle (für den Gesamtumfang des Werkes durchaus ausführlich Klaus Kröger, Einführung in die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 1993, § 3; bemerkenswerterweise kein eigenes Kapitel bei Jörn Ipsen, Der Staat der Mitte. Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2009). Das große Thema der ausländischen Einflüsse auf die Verfassungsgebung war Gegenstand einer nicht sonderlich überzeugenden Habilitationsschrift (Heinrich Wilms, Ausländische Einwirkungen auf die Entstehung des Grundgesetzes, Stuttgart 1999) und ist damit keinesfalls ausgeschöpft. Recht gut erforscht ist von historischer und politikwissenschaftlicher Seite demgegenüber die Lobbyarbeit dem Parlamentarischen Rat gegenüber, insbesondere, soweit sie sich auf Wirtschaftsverbände, die Kommunalverbände und die Kirchen bezieht (erwähnt seien nur Werner Soergel, Konsensus und Interessen. Eine Studie zur Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1985, und Burkhard van Schewick, Die katholische Kirche und die Entstehung der Verfassungen in Westdeutschland 1945–1950, Mainz 1980). Der Parlamentarische Rat als solcher, als Gremium, als Institution, ist jedoch kaum erforscht – und zwar biographisch wie institutionell (vgl. jetzt immerhin den Fotoband Erna Wagner-Hehmke/Helge Matthiesen, Für immer Recht und Freiheit. Der Parlamentarische Rat 1948/49, Köln 2022). Wie organisierte sich diese vorbildlose Versammlung selbst? Über Kurzbiographien hinaus ist auch die Zusammensetzung wenig erforscht (Kurzbiographien der bzw. einiger Mitglieder etwa bei Feldkamp und Lange). Welche Rolle spielten die Landtage während der Beratungen – immerhin hatten sie ja die Mitglieder bestimmt? Wie funktionierte die Verbindung zu den alliierten Siegermächten? Wer wurde von alliierter Seite warum als Verbindungsoffizier ausgewählt usw.?

Zwei Aspekte aus der Grimm’schen Darstellung möchte ich herausgreifen: Die Bedeutung der Frankfurter Dokumente würde ich etwas anders gewichten, mich eher den von Grimm kritisierten Historikern Adolf M.Birke, Rudolf Morsey und Edgar Wolfrum anschließen, die von einer Art »Geburtsurkunde« der Bundesrepublik sprechen. Grimm setzt dem in Weiterführung dieser Metaphorik entgegen, es handele sich eher um eine »Aufforderung zur Zeugung« des neuen Gemeinwesens. Jenseits dieser Bildersprache: Ich würde die inhaltliche Funktion der Frankfurter Dokumente gegenüber dem Nudging-Moment höher einschätzen. Alle wirklich zentralen Entscheidungen, die bei der Verfassungsgebung zu treffen waren, sind hier vorweggenommen. Das erinnert an die freilich dezisionistische Schmitt’sche Analyse der Verfassungsentstehung in Bezug auf die Weimarer Reichsverfassung, d.h. die Unterscheidung zwischen der Verfassung als politischer (Gesamt-)Entscheidung einerseits, der Ausarbeitung eines Verfassungsgesetzes andererseits – dort bezogen auf die revolutionär im Winter 1918/19 vor Zusammentritt der Nationalversammlung getroffenen Kernentscheidungen (Carl Schmitt, Verfassungslehre, 10. Aufl., Berlin 2010, 3ff., 20ff.). Grimm gibt zu bedenken, dass einerseits diese »Entscheidungen« hoch abstrakt waren und dass andererseits wohl auch ohne die Frankfurter Dokumente ähnliches geschaffen worden wäre. Das galt gewiss für die Festlegung auf Republik, Volkssouveränität, Föderalismus und mit dem Stinnes-Legien-Pakt auf eine konkrete Wirtschaftsverfassung auch 1919.

Völlig zu Recht stellt Grimm dann die föderalstaatlichen Diskussionen heraus. Hier lag wohl das größte Konfliktpotenzial im Rahmen der Verfassungsgebung – innerhalb der deutschen Stellen wie gegenüber den Alliierten. Vielleicht hätte man noch deutlicher machen können, dass nur die Amerikaner eine Föderalismuskonzeption im Kopf hatten (die Franzosen wollten Deutschland schlicht klein halten und glaubten – leicht unterkomplex –, dass die Bundesstaatlichkeit dazu nützlich sein könne; Großbritannien konnte noch nie etwas mit Föderalismus anfangen). Auf deutscher Seite waren nur die Unionsparteien föderalistisch gesinnt. Die Sozialdemokratie argwöhnte stets, |dass eine staatliche Zersplitterung ihr sozialstaatliches Konzept torpedieren würde; der Liberalismus war noch in den föderalen Traumata des 19. Jh. verfangen. Das könnte man auf die bekannte Debatte über die Zweite Kammer rückbeziehen: Weil der Föderalismus in Deutschland in historischer Perspektive konträr zu den wirkmächtigen Ideen des 19. Jh. (Liberalismus, Nationalstaat und demokratische Bewegung) stand, setzte sich letztlich das deutsche Bundesratsmodell durch. In den beiden »klassischen« Bundesstaaten USA (1787) und der Schweiz (1848) war Föderalismus jedoch stets mit dem demokratischen Staatsaufbau untrennbar verknüpft; kaum zufällig ist dort das wesentlich demokratiekompatiblere Senatsmodell verwirklicht. In Deutschland bildete die Bundesstaatlichkeit lange Fürstensouveränität und Partikularismus ab – die auch aktuelle Rede von der Gefahr von »Kleinstaaterei« ist Frucht dieser schwierigen Tradition (vgl. etwa Christian Waldhoff, Föderalismus. Der prekäre Status der Länder als politischer Raum, in: Hans Michael Heinig/Frank Schorkopf [Hg.], 70 Jahre Grundgesetz, Göttingen 2019, 229ff.).

2. Mir leuchtet die Kritik von Dieter Grimm an der Inhaltsbeschreibung des Grundgesetzes durch die herangezogenen Historiker nur teilweise ein. Zuzugeben ist, dass das beschriebene Defizit etwa in den USA so nicht besteht: Hier befassen sich auch zünftige Historiker eingehend mit Fragen, warum wann welche Inhalte in die Verfassung kamen (herausragend Gordon S.Wood, The Creation of the American Republic 1776–1787, zuerst The University of North Carolina Press 1969; mehrere Auflagen). Es wäre interessant zu untersuchen, warum eine entsprechende Tradition in Deutschland weniger ausgebaut ist. Liegt es nur am größeren zeitlichen Abstand?

Verständlich ist die Fixierung der deutschen Historiker auf die grundlegenden staatsorganisatorischen Regelungen des Grundgesetzes als Frucht seiner Entstehung. Ein Teil der Historiker sieht das Grundgesetz insoweit als Gegenbild zur Weimarer Reichsverfassung. Zum 100-jährigen Jubiläum dieser Vorgängerverfassung des Grundgesetzes ist von juristischer Seite der Versuch einer Rehabilitierung dieser im Kern gelungenen Verfassung unternommen worden, der zum einen bei Historikern teilweise auf Kritik stieß, zum anderen sich auch erst einmal gegen übermächtige gegenteilige Narrative durchsetzen muss (Horst Dreier/Christian Waldhoff [Hg.], Das Wagnis der Demokratie, München 2018; dies. [Hg.], Weimars Verfassung. Eine Bilanz nach 100 Jahren, Göttingen 2020). Hier hat das Bundesverfassungsgericht im nicht unumstrittenen Wunsiedel-Beschluss zu Recht den Nationalsozialismus (und nicht die WRV) als historisches Gegenbild zum Grundgesetz benannt (BVerfGE 124, 300 [328]). Um Verständnis für die Historiker-Kollegen möchte ich werben, was ihre Behandlung der inhaltlichen, der »materiellen« Teile betrifft, d.h. v.a. der Grundrechte und Staatszielbestimmungen als Ergebnis des Verfassungsgebungsprozesses. Natürlich kann man durch einen Text- und Strukturvergleich die gravierenden Unterschiede zwischen den jeweiligen Grundrechtsabschnitten schnell erkennen und auch erklären. Ich habe aber ein gewisses Verständnis dafür, dass sich zünftige Historiker nicht mit einer Art »Textstufenvergleich« befassen möchten, sondern sich eher dem law in action, d.h. der kontextualisierten Wirkungsgeschichte zuwenden (auch unter Juristen ist das etwa von Peter Häberle praktizierte Verfahren des Textstufenvergleichs nicht unumstritten, vgl. nur etwa dens., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, Berlin 1992, und dort insbesondere den Spitzenaufsatz: Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates [1989], 3ff.). Historiker würden kaum abstrakt die Formulierung von Präambeln vergleichen, weil Normtexte als solche für sie keine rechte Bedeutung haben. Normtexte interessieren primär in ihren Wirkungen, in ihrer Verwirklichung. Die Frage lautet dann: Was haben diese Grundrechtsverbürgungen und Staatszielbestimmungen im Angesicht einer weitgehend vorbildlosen Verfassungsgerichtsbarkeit im Lauf der Zeit tatsächlich bewirkt? Hier ist der Jurist seiner Profession entsprechend auf Texte fixiert, ggf. noch auf ihre Anwendung in Judikaten, der Historiker demgegenüber auf Umsetzung und Wirkungen. Das zeigt sich etwa für die staatsorganisationsrechtlichen Bestimmungen sehr schön in der ausgezeichneten Studie von Udo Wengst (Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948–1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1984), die die Einrichtung und Erstprägungen der Verfassungsorgane ausführlich untersucht. Und umso mehr gilt dies für die insofern wichtigste Staatszielbestimmung, die Sozialstaatlichkeit, ebenso wie für den Auftrag zur europäischen Integration, womit jedoch bereits auf die weiteren Kapitel des Buches verwiesen wird. Dort gewinnt die Grimm’sche Kritik ihr eigentliches Feld.