Die Politikwissenschaft kommt in Dieter Grimms Resümee von »Die Historiker und die Verfassung« gut weg, ja sie wird der Geschichtswissenschaft als Vorbild empfohlen:
»Die von der Geschichtswissenschaft betriebene Verfassungsgeschichte müsste sich als anerkannter Zweig der Zeitgeschichte erst etablieren, so wie sich die Verfassungs- und Verfassungsgerichtsforschung als Zweig der Politikwissenschaft inzwischen etabliert hat« (325).
Das Lob ist indes kein uneingeschränktes, denn die Politikwissenschaft ist nicht in toto gemeint, und Lehrbücher oder Gesamtdarstellungen zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland haben – genauso wenig wie allgemeine Darstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte – nicht immer ihren Fokus auf das Grundgesetz ausgerichtet, wenngleich es vielfach in seiner konstitutiven Bedeutung gewürdigt wird.
Doch hat sich in der politikwissenschaftlichen Disziplin in den letzten Jahrzehnten eine Forschungsrichtung etabliert, die sich mit Theorie und Bedeutung von Verfassungen, der Entwicklung des Grundgesetzes wie auch mit der Stellung und dem Einfluss von Verfassungsgerichten systematisch und empirisch befasst. Damit ist Anschluss gefunden worden an die internationale Forschung, die mit der Verfassungsgerichtsbarkeit einen nicht zu unterschätzenden player im demokratischen Regierungssystem erkannt hat. Dass Verfassungsgerichte mitregieren, also nicht nur streitentscheidende, schlichtende oder befriedende Institutionen der Rechtsprechung sind, sondern auch als policy maker und veto player normative wie regulative Bedeutung für die Entwicklung von Politik und Gesellschaft, auch: für die Geschichte eines Landes, haben, dürfte nur diejenigen überraschen, die die tragende Bedeutung von Verfassungen im System konstitutioneller Demokratien verkennen.
Die – deutsche – Politikwissenschaft war lange Zeit gefangen in einer Aporie, weil sie sich als Wirklichkeitswissenschaft verstand und sich deshalb eher mit den politischen Kräften sowie den Strukturen und Institutionen eines Regierungssystems auseinandersetzte. Die Verfassung und die Verfassungsgerichtsbarkeit wurden hingegen als genuine Materien einer sich vornehmlich juridisch-positivistisch verstehenden Rechtswissenschaft gesehen, die sich vor allem über die normative Dezisionsfunktion des Rechts definierte. So war die Verfassung entweder Recht oder Politik, wobei sie als Letztere von der Politikwissenschaft – übrigens auch von den anderen Sozialwissenschaften – hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt von Macht-, Entscheidungs- oder Willensbildungsprozessen (bspw. in konstitutionellen Entstehungskontexten) analysiert wurde. Auch wurde ihr Normcharakter in mitunter politisch-polemischer Weise zur Gegenüberstellung von Verfassung und Verfassungswirklichkeit verkürzt, so dass die Erfüllung von – vermeintlichen – Versprechungen der Verfassung angesichts einer defizitär anmutenden Verfassungswirklichkeit eingeklagt wurde.
Die Wende zu einer anders gelagerten Analyse von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit hat sich innerhalb der letzten Jahrzehnte vollzogen und beruht im Wesentlichen auf der Beobachtung, dass es auf Verfassungen und Verfassungsgerichtsbarkeit ankommt – und dies nicht nur in der Perspektive eines stabilen und funktionsfähigen demokratischen Regierungssystems. Vielmehr haben die konstitutiven, regulativen und limitativen Funktionen einer Verfassung1 auch Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft, die als sozial-integrativ und politisch-identitätsstiftend verstanden werden können. Verfassungen können dann, so die an der bundesrepublikanischen Entwicklung geschulte |Beobachtung, zu einem Forum werden, auf dem gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurse ausgetragen werden.2 Solche Entwicklungen sind in der je halbierten Perspektive einer juristischen Norm- und einer wirklichkeitswissenschaftlichen Politikwissenschaft nicht oder nur unzureichend in den Blick zu bekommen.
Um Rolle, Bedeutung und Stellenwert von Verfassungen und Verfassungsgerichtsbarkeit adäquat beschreiben zu können, ist deshalb eine Rekonzeptualisierung des Verfassungsbegriffs notwendig, die die Verfassung als symbolische Ordnung begreift und die die Wiederverklammerung der juristischen und der politischen Perspektive auf die Verfassung über die Frage nach den konstitutionellen Geltungsmechanismen sucht. Was hier für die politikwissenschaftliche Forschung geleistet worden ist, könnte cum grano salis auch für die Geschichtswissenschaft interessant, vielleicht auch leitend, sein.
Was ist mit Verfassungen als symbolischen Ordnungen gemeint?3 Verfassungen sind nicht allein rechtliche Spielregelwerke, sondern auch Speicher von politischen Ordnungsvorstellungen und gesellschaftlichen Leitideen. Verfassungen sind deshalb symbolische, keine feststehenden Ordnungen. Sie stellen Ordnungsbehauptungen und Geltungsansprüche auf, können sie aber von sich aus nicht einlösen. Deshalb ergibt sich der Sinn einer Verfassung aus einer solchen symbolischen Ordnung nicht daraus, dass ihr eine normativ-regulierende Kraft eingeschrieben ist, was ein positivistischer Kurz- und ein nominalistischer Fehlschluss ist, sondern daraus, dass ihr herausgehobene, grundlegende Ordnungsvorstellungen und Leitideen zugeschrieben werden und von ihr eine instrumentell-steuernde Funktion erwartet wird. Geltung erwirbt die Verfassung in einem komplexen Prozess von Anerkennung und Akzeptanz in einem Raum potenziell konkurrierender juristischer, politischer und gesellschaftlicher Interpretationen und Praktiken. Erst das Ineinander gesetzter, gedachter und gelebter Ordnung macht die Verfassung zu einer geltenden Ordnung. Insofern kann das Problem der Verfassungsgeltung als ein Prozess der Emergenz und im Rahmen einer disziplinär breit aufgestellten Verfassungshermeneutik und Verfassungspraxeologie konzeptualisiert werden.
Was hier als Aufgabe einer – sich interdisziplinär verstehenden – Verfassungswissenschaft beschrieben ist, kann auch der Geschichtswissenschaft einen neuen Zugang zur Verfassung eröffnen.4 Dabei kann es m.E. weniger um eine »Wirkungsgeschichte« gehen, wie sie Dieter Grimm für die Historiker einfordert und in seinem Buch in den Grundzügen skizziert, sondern um eine Geltungsgeschichte. Verfassungen besitzen zwar einen normativen Vorschuss, der aus dem Akt der Verfassungsgebung resultiert, der aber keineswegs für die nachfolgende Zeit als gegeben vorausgesetzt werden kann. Die »normative Kraft« muss errungen und behauptet werden – gegen widerstreitende politische Akteure und konfliktreiche gesellschaftliche Interessenlagen. Der Geltungsanspruch unterliegt sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen, die sich der Vorstellung eines kausal zurechenbaren Wirkungszusammenhangs entziehen. Die entscheidende Frage ist, wie es einer Verfassung gelingt, ihren aus dem originären Einsetzungsakt entspringenden Ordnungsanspruch auf Dauer zu stellen. Die Verfassung tritt aus dem sie begründenden Ursprungskontext heraus und verlangt nach einer steten, aktualisierenden, interpretativen und performativen Präsenzmachung ihres Normengehaltes.5 Wie dieser Hiatus von Gründung und Geltung gelingen (oder aber auch: scheitern) kann – das ist eine der |entscheidenden Fragen an eine interdisziplinäre, also auch geschichtswissenschaftliche Verfassungsforschung.
Für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wie für die Geschichte des Grundgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland ist ein Akteur von ganz besonderer Bedeutung: das Bundesverfassungsgericht. Womöglich hätte Dieter Grimm sein Buch auch gar nicht schreiben können, wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht einen so bestimmenden Einfluss gehabt hätte: auf die Entwicklung der Bundesrepublik und die hohe Akzeptanz des Grundgesetzes über fast 75 Jahre. Dabei besitzt das Bundesverfassungsgericht eine doppelte Scharnierfunktion, es ›repräsentiert‹ die Verfassung und es gibt ihr ›Präsenz‹ durch die autoritative Deutung der normativen Gehalte, kurzum: Es verbindet konstitutionelles Gründungsmoment und Geltung des Grundgesetzes hic et nunc. Insofern lassen sich die Geschichte des Grundgesetzes und die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht voneinander trennen, was sich in dieser Weise indes keineswegs für alle konstitutionellen Demokratien sagen lässt. Warum das so (geworden) ist, warum das Bundesverfassungsgericht diese Autorität besitzt, die ihm Deutungsmacht, eine Form von persuasiver Macht, verschafft, warum es eine entgegenkommende politische Kultur gibt, die dem Grundgesetz hohe Akzeptanz und dem Verfassungsgericht großes institutionelles Vertrauen sichert, und wie es historisch zu erklären ist, dass gesellschaftliche Akteure und politische Institutionen dem Grundgesetz und den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (fast immer) Folge leisten6 – das sind die Fragen, die die Geschichtsschreibung, aber gewiss nicht nur sie, beantworten muss. Dieter Grimm gibt in seinem Buch die entscheidenden Anregungen.
1 Vgl. Hans Vorländer, Die Verfassung. Idee und Geschichte, 3. Aufl., München 2009.
2 Vgl. Hans Vorländer (Hg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002. Auch schon früher: ders., Verfassung und Konsens, Berlin 1981, und ders., Forum Americanum. Kontinuität und Legitimität der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika 1787–1987, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 36 (1987) 451–488.
3 Vgl. Hans Vorländer, Die Verfassung als symbolische Ordnung. Perspektiven einer kulturwissenschaftlich-institutionalistischen Verfassungstheorie, in: Michael Becker, Ruth Zimmerling (Hg.), Politik und Recht. PVS – Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 36 (2006) 229–249, sowie ders., Constitutions as Symbolic Orders: The Cultural Analysis of Constitutionalism, in: Paul Blokker, Chris Thornhill (Hg.), Sociological Constitutionalism, Cambridge 2017, 209–240.
4 So ja auch die Arbeiten von Barbara Stollberg-Rilinger, vgl. nur dies., Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008. Vgl. auch Hans Vorländer, Verfassungen und Rituale in Vormoderne und Moderne, in: Margo Kitts et al. (Hg.), Ritual Dynamics and the Science of Ritual, vol. III, Wiesbaden 2010, 135–147.
5 Vgl. Hans Vorländer, Gründung und Geltung. Die Konstitution der Ordnung und die Legitimität der Konstitution, in: Gert Melville, ders. (Hg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln 2002, 243–263.
6 Hierzu u.a. Hans Vorländer (Hg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, Wiesbaden 2006.