Das Bundesverfassungsgericht als Deus ex Machina der Geschichte der Bundesrepublik?

[The Federal Constitutional Court: The Deus ex Machina of the History of the German Federal Republic?]

Christoph Schönberger Universität zu Köln christoph.schoenberger@uni-koeln.de

Dieter Grimm liest den Historikern der Bundesrepublik gehörig die Leviten. Seine Kritik, diese berücksichtigten in ihren Gesamtdarstellungen Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit nicht genug, wird bei Verfassungsrechtlern und juristisch sozialisierten Verfassungshistorikern geneigte Ohren finden, bei Historikern zumindest das schlechte Gewissen wachrufen. Ich gestehe aber sogleich, dass mich Grimms gestrenge Philippika nur insoweit überzeugt, als er generell eine stärkere Berücksichtigung des Rechts in der Geschichtsschreibung über die Bundesrepublik anmahnt. Hingegen möchte ich die Historiker zugleich gegen seine Kritik in Schutz nehmen, weil die Grimm vorschwebende Operationalisierung dieser stärkeren Berücksichtigung des Faktors Recht verfassungsdogmatischen Idealisierungen folgt, die für eine historische Betrachtung nicht maßgeblich sein können.

Hierbei ist zunächst festzuhalten, dass Dieter Grimms Ausgangshypothese völlig zutreffend ist: Insofern die historischen Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik diese in starkem Umfang als politische Geschichte schreiben, ist dies nicht möglich, ohne Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit zu berücksichtigen. Die Frage ist also nicht, ob diese Faktoren in der Darstellung Berücksichtigung finden müssen, sondern wie und wie umfangreich sie dort zu verarbeiten sind. Zutreffend ist auch der Befund, dass diese Faktoren in Gesamtdarstellungen dann einbezogen werden müssen, wenn sie für die historische Entwicklung der Bundesrepublik von signifikanter Bedeutung waren.

Man wird Dieter Grimm sicherlich auch darin zustimmen können, dass die historischen Gesamtdarstellungen der Bundesrepublik Verfassungsrecht und Verfassungsrechtsprechung zu wenig als Quellenmaterial berücksichtigt haben. Die Gründe für diese verfassungsrechtliche Unterbilanz sind vielfältig. Zu ihnen mag die Scheu des Historikers vor der Technizität des Rechts und der Sondersprache verfassungsgerichtlicher Urteile ebenso gehören wie die verschiedenen Wenden in der Geschichtswissenschaft vom »cultural turn« bis zum »postcolonial turn«, deren Gemeinsamkeit jedenfalls darin besteht, dass die Beschäftigung mit dem Funktionieren der nationalen staatlichen Institutionen und der Verfassungsgeschichte häufig als irgendwie veraltet gilt, insoweit sie nicht noch der NS-bezogenen Geschichtsschreibung zugerechnet werden kann. Es mag auch die Zurückhaltung mitschwingen, das Bundesverfassungsgericht insoweit in historischen Darstellungen als eigenständigen politischen oder jedenfalls politisch signifikanten Akteur zu behandeln und nicht als ein unpolitisches Gericht, als das es gerade aus Sicht des juristischen Laien immer noch nicht selten erscheint. Allerdings ist das Bild durchaus positiver, wenn man nicht die Gesamtdarstellungen, sondern die monographische Einzelforschung in den Blick nimmt, die national wie international themenbezogen immer wieder einmal die rechtlichen Aspekte durchaus anspruchsvoll verarbeitet.1 |

Trifft Dieter Grimms Defizitbefund jedenfalls für die Gesamtdarstellungen zu, so scheint mir doch zugleich, dass seine Kritik ihrerseits kritikbedürftig ist. Denn in einer gegenläufigen Übertreibung will er den Faktoren Verfassungsrecht und Verfassungsrechtsprechung nun ihrerseits eine Art Universalsignifikanz für die bundesdeutsche Geschichte zuschreiben, die mit geschichtswissenschaftlichen Mitteln nicht erhärtet werden kann. Im Bemühen, den Historikern ihre Auslassung vorzuhalten, fällt Dieter Grimm gleichsam in den heimischen Dialekt des Verfassungsrechtlers, Verfassungsrichters und Verfassungstheoretikers zurück, für den die allgemeinhistorische Relevanz des eigenen Arbeitsgebiets offenkundig ist und der dieses von den Historikern gleichzeitig unter den idealisierenden Prämissen der Selbstinterpretationen des Rechtssystems behandelt sehen möchte.

Diese allgemeinhistorische Relevanz besteht aber jedenfalls im von Dieter Grimm postulierten Ausmaß keineswegs. Vielmehr stößt Grimm damit an allgemeine Grenzen geschichtswissenschaftlicher Kausalitätsbefunde. Denn es ist der Geschichtswissenschaft mit ihren Erkenntnismitteln kaum möglich, die relative Signifikanz einzelner Faktoren für die historische Gesamtentwicklung zu ermitteln. Die Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik unternehmen das denn auch für keinen der beteiligten Akteure. Für die Wirkungen von Recht gilt das zumal auch deshalb, weil hierzu auch für die Gegenwart kaum vertiefte Forschung aus Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft oder Soziologie vorliegt. Erst recht kann den Historikern nicht angesonnen werden, bei der Geschichtsschreibung den Faktor Recht allein nach den idealisierenden Prämissen zu berücksichtigen, wie sie den Selbstbeschreibungen des Rechtssystems regelmäßig zugrundeliegen.2 Dieter Grimm will dem Problem hingegen unter Berufung auf Max Weber durch kontrafaktische Alternativbetrachtung beikommen. Der Historiker soll etwa fragen, was geschehen wäre, wenn es kein Verfassungsgericht gegeben hätte oder das Verfassungsgericht in diesem oder jenem Fall anders entschieden hätte. Derartige »Was wäre gewesen, wenn«-Fragen gehören aber aus gutem Grund nicht zum üblichen Methodeninstrumentarium historischer Forschung, weil nicht klar ist, wie man geschichtliche Verläufe erforschen soll, die gar nicht stattgefunden haben. Sie werden deshalb von Historikern nur dann und wann als produktive Irritation genutzt, um den stets drohenden hindsight bias zu vermeiden und die Offenheit der jeweiligen historischen Epoche in ihrer Zeit in Erinnerung zu rufen. Auch insoweit zeigt sich Grimm eher als Jurist denn als Historiker, denn in der rechtswissenschaftlichen Zurechnungslehre, die etwa im Strafrecht oder zivilrechtlichen Haftungsrecht bestimmen muss, ob ein bestimmtes Ergebnis, juristisch »Erfolg« genannt, einer bestimmten Person zuzurechnen ist, hat die Frage nach relativen Zurechnungsbeiträgen und alternativen Kausalverläufen durchaus ihren anerkannten Platz. Es handelt sich dabei indes regelmäßig um überschaubare Sachverhalte, und die Zurechnung von Handlungsbeiträgen zu einzelnen Personen ist aufgrund des positiven Rechts unvermeidlich nötig. Der erste Umstand fehlt beim Historiker nicht selten, der zweite immer.

Die historische Bedeutsamkeit von Verfassungsgerichtsentscheidungen ist ohnehin nicht notwendigerweise nur durch die Grimmsche Alternativenprüfung zu ermitteln. So hat das Gericht etwa 1952 in einer seiner frühen Entscheidungen die rechtsextreme SRP verboten (BVerfGE 2,1). Es hat damit zur grundlegenden Neukonfiguration des Bonner Parteiensystems im Verlauf der 1950er Jahre signifikant beigetragen, ohne dass wir genau wissen können, wie die Entwicklung verlaufen wäre, wenn das Gericht das beantragte Verbot damals abgelehnt hätte. Erst recht problematisch erscheint es, dass Dieter Grimm die historische Signifikanz von Verfassungsgerichtsentscheidungen aus der bloßen rechtlichen Möglichkeit einer alternativen Entscheidung ableiten will. Es kommt also nach seiner Lesart nicht darauf an, ob in der |jeweiligen Zeit aufgrund des Kenntnisstands der Gegenwart – etwa inzwischen zur Verfügung stehender Akten usf. – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch eine andere Entscheidung hätte ergehen können. So vermisst er etwa in den Darstellungen zum Terrorismus der 1970er Jahre einen Hinweis auf den Schleyer-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1977, mit dem das Gericht einen Antrag der Familie ablehnte, die Bundesregierung zu verpflichten, inhaftierte Terroristen gegen den entführten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer auszutauschen. Er unternimmt aber keinerlei Versuch zu plausibilisieren, warum eine andere Entscheidung im Horizont der Zeit nahegelegen hätte oder doch zumindest nicht völlig unwahrscheinlich gewesen sein soll. Genau dadurch entsteht aber die hier kritisierte Universalsignifikanz des Bundesverfassungsgerichts für die allgemeine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, wie sie Grimms Buch zugrunde liegt. Das Gericht hätte 1952 die Wiederbewaffnung untersagen, 1977 die Freilassung von Terroristen anordnen oder 2009 das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon verhindern können. Nichts davon hat es zwar getan, aber es hätte das verfassungsrechtlich doch tun können, und deshalb soll seine Beteiligung an diesen Vorgängen allgemeinhistorisch bedeutsam sein. Auch hier kommt dem Historiker Grimm erneut der Rechtsdogmatiker in die Quere. Die verfassungsrechtliche Möglichkeit, das Bundesverfassungsgericht in einer Vielzahl von Fällen anzurufen, und die jeweils prozessrechtlich bestehende Möglichkeit, dass das Gericht auch anders hätte entscheiden können, machen das Bundesverfassungsgericht zum Deus ex Machina der von Grimm eingeforderten Geschichte der Bundesrepublik. Das Gericht schwebt in einer Theatermaschine über der Bühne des bundesdeutschen historischen Geschehens und kann jederzeit seinen rettenden Auftritt haben. Auf diese Weise verwandelt sich die allgemeine Geschichte der Bundesrepublik unter der Hand in Verfassungsgeschichte, genauer: in Verfassungsgerichtsgeschichte, noch genauer: in eine verfassungsdogmatisch geprägte Verfassungsgerichtsgeschichte.

Dieter Grimms im Grundsatz berechtigte Kritik an der mangelnden Präsenz des Verfassungsrechts und des Verfassungsgerichts in den allgemeinhistorischen Darstellungen der Bundesrepublik schießt daher weit über das Ziel hinaus. Die Signifikanz des Verfassungsrechts und der Verfassungsjudikatur für die allgemeine Geschichtsschreibung der Bundesrepublik wird man eigenständig geschichtswissenschaftlich bestimmen müssen. Dies kann um so überzeugender geschehen, je besser insoweit das Angebot von Seiten der Verfassungsgeschichtsschreibung und Verfassungsgerichtsgeschichtsschreibung ist und je mehr diese selbst die relative Eigenständigkeit des Rechts würdigen, ohne doch die idealisierenden Prämissen zu reproduzieren, mit denen Verfassungsdogmatik und Verfassungsgerichtsbarkeit alltäglich arbeiten und vielleicht zu einem guten Teil auch arbeiten müssen. Es mag sein, ja ist sogar wahrscheinlich, dass das Bild von Verfassung und Verfassungsgericht in einer derartigen Geschichtsschreibung am Ende des Tages weniger bestimmend, hell und klar erscheinen wird als in Dieter Grimms Darstellung. Denn die Grundfarbe der Geschichte, das wissen wir seit Thomas Nipperdey, ist grau, in unendlichen Schattierungen.

Notes

1 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Michael F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948–1949: Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 2019; Udo Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948–1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1984, 77 ff., 226 ff., 316 ff.; Justin Collings, Democracy’s Guardians: A History of the German Federal Constitutional Court 1951–2001, Oxford 2015; Aurore Gaillet, La Cour constitutionnelle fédérale allemande. Reconstruire une démocratie par le droit (1945–1961), Paris 2021; Thomas Henne, Arne Riedlinger (Hg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht: Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2005; Anselm Doering-Manteuffel et al., Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 1985, Tübingen 2015; Henning Hansen, Die Sozialistische Reichspartei (SRP). Aufstieg und Scheitern einer rechtsextremen Partei, Düsseldorf 2007, 223 ff.; Martin Will, Ephorale Verfassung, Tübingen 2017; Sebastian Gehrig, Legal Entanglements. Law, Rights and the Battle for Legitimacy in Divided Germany, 1945–1989, New York 2021. Das gilt erst recht für den Bereich des Völkerrechts: Mark Mazower, No Enchanted Palace: The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations, Princeton 2009; Samuel Moyn, The Last Utopia: Human Rights in History, Cambridge 2012; Lora Wildenthal, The Language of Human Rights in West Germany, Philadelphia 2013.

2 Weiterführend dazu die kritische Auseinandersetzung mit Grimms früherer Kritik an Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte bei Frieder Günther, Zeitgeschichte und Recht, in: Markus Rehberg (Hg.), Der Erkenntniswert von Rechtswissenschaft für andere Disziplinen, Wiesbaden 2018, 83–104.