Herausforderung und Anregung

[Challenge and Stimulation]

Jürgen Kocka Freie Universität Berlin kocka@wzb.eu

Dieter Grimms Streitschrift »Die Historiker und die Verfassung« konfrontiert die allgemeine Zeitgeschichte mit grundsätzlichen Herausforderungen. Zugleich bietet sie ihr hochinteressante Anregungen. Zentral ist Grimms Vorwurf, dass in Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik die Arbeit, die Entscheidungen und die Wirkungen des Bundesverfassungsgerichts kaum dargestellt, geschweige denn analysiert werden. Dies aber, so Grimm, ist aus mehreren Gründen ein gravierendes Defizit. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben über die Jahrzehnte erheblich zur Gestaltung des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens der Bundesrepublik beigetragen und gehören schon deshalb zu deren Geschichte. Sie haben das Grundgesetz, das mit seinen oft sehr schlanken Bestimmungen große Deutungs- und Ausführungsspielräume eröffnet, überhaupt erst in die Realität überführt und langfristig substantiell verändert; ohne Aufmerksamkeit für das Bundesverfassungsgericht werde auch die große, zunehmende und sich inhaltlich wandelnde Bedeutung des Grundgesetzes für Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik nicht angemessen begriffen. Schließlich ist nach Grimm das Bundesverfassungsgericht die entscheidende Instanz in einem das deutsche politische System durch die sukzessive Aufwertung des Grundgesetzes und seiner grundrechtlichen Bestimmungen verändernden Prozess der »Konstitutionalisierung«, der auch die praktisch relevante Interpretation anderer und insbesondere älterer Rechtskodifikationen gründlich neu gestaltet und der Verrechtlichung großer Bereiche des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens Vorschub geleistet hat – in Deutschland mehr als in den meisten anderen Ländern. Auf diesen deutschen »Sonderweg«, so Grimm, gehen die von ihm kritisch analysierten Gesamtdarstellungen der deutschen Zeitgeschichte nicht angemessen ein.

Mich überzeugt die Stoßrichtung dieser Argumentation, wenngleich nicht in jedem Aspekt, und auch wenn sie in gedanklichen Kontexten, die mir als Historiker näherstehen, etwas von ihrer Unbedingtheit verliert, mit der sie von Dieter Grimm vorgetragen wird.

Grimm fußt auf der kritischen Durchsicht von insgesamt zwölf Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik und konzentriert seine Analyse auf diese. Er kennt die – ohnehin nicht besonders reichhaltige – historische Spezialliteratur zum Bundesverfassungsgericht, aber sie ist nicht Gegenstand seiner Untersuchung. Dies ist legitim und verständlich, denn Grimm geht es um das Gesamtbild der Geschichte der Bundesrepublik in seinen verschiedenen Varianten und um die Unterbelichtung der verfassungsgeschichtlichen Dimension in solchen tendenziell repräsentativen Synthesen oder Überblicken. Dies lädt zum Nachdenken über das Genre, die Logik und die inneren Grenzen historischer Gesamtdarstellungen ein.

Was Dieter Grimm in Bezug auf die Unterbelichtung verfassungsgeschichtlicher Aspekte herausarbeitet, lässt sich in ähnlicher Deutlichkeit in Bezug auf die Vernachlässigung der Wissenschaftsgeschichte in Gesamtdarstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte belegen und beklagen. Rechtshistorikern mag dies als eine lässige Sünde erscheinen im Vergleich zur Marginalisierung des Bundesverfassungsgerichts und seiner Bedeutung, aber in Ansehung der fundamentalen Rolle der Wissenschaften als Treiber des Wandels in fast allen Lebensgebieten des 20. und 21. Jahrhunderts lässt sich das auch anders gewichten. Andere Beispiele ließen sich finden, um den Punkt zu belegen: Auch Gesamtdarstellungen mit umfassend synthetischem Anspruch sind, gerade insoweit sie sich deutend über das Genre der bloßen Chronik erheben, selektiv. Ihre Argumentation hängt von Fragestellungen und Auswahlentscheidungen ab, die unterschiedliche Autorinnen und Autoren unterschiedlich treffen und die sie dem Lesepublikum – und wohl auch sich selbst – selten ganz transparent machen. Man mag dies beklagen und zurecht fordern, leitende Fragestellungen und davon abhängige Auswahlentscheidungen zu explizieren, zur Diskussion zu stellen und so gut es geht zu begründen, schon um nicht der stummen Macht der Konvention zu erliegen. Doch auch wenn dies gelingt, bleibt es – gerade in umfassenden Gesamtdarstellungen – bei der Notwendigkeit von Auswahl, Priorisierung und Marginalisierung. Die damit verbundene Sichtverengung kann durch Verweise auf nicht berücksichtigte Themen, Quellen und Literatur in den Anmerkungen nur sehr begrenzt kompensiert werden, so hilfreich |diese auch oft sind, um den Lesern selbstständiges Verfolgen im Text nicht oder kaum gestellter Fragen zu ermöglichen.

Aber die von Grimm kritisierte Vernachlässigung zentraler Themen der bundesrepublikanischen Verfassungsgeschichte in zeithistorischen Gesamtdarstellungen lässt sich so nur zum Teil erklären. Denn dieser Sichtverengung machten sich, mit wenigen partiellen Ausnahmen, alle von Grimm untersuchten Darstellungen schuldig. Sie scheint von systemischer Art zu sein. Drückt sich darin eine verbreitete Unterschätzung von Institutionalisierungsprozessen aus, die sich mit dem Aufstieg der Alltagsgeschichte, der Mikrogeschichte, der Praxisgeschichte und verschiedener Varianten der Kulturgeschichte gerade bei traditionskritischen, innovationsfreudigen Historikerinnen und Historikern verstärkt hat? Eine Verkennung des Eigengewichts von Recht, seine Unterschätzung als Sekundärphänomen, wie sich in der verbreiteten Abwertung als »bloß formaljuristisch« anzudeuten scheint? Grimm sucht selbst nach Erklärungen für die von ihm kritisierte Sichtverengung der Historiker. Er vermutet, dass die immense Bedeutung der Verfassungsauslegung durch Gerichte, die sich aus der begrenzten Determinationskraft der Verfassungsnormen ergibt, breiten Kreisen und so auch Historikern nicht hinreichend bewusst ist, sodass dringend erwünschte Forschungsfragen nicht gestellt werden. Das dürfte zutreffen. Er räumt Verständigungsschwierigkeiten ein, die bei der Auswertung von oft sehr ausführlichen, hochkomplexen und vor allem fachjuristisch formulierten Verfassungsgerichtsurteilen durch juristisch nicht geschulte Geistes- und Sozialwissenschaftler auftreten können. Das ist ebenfalls sehr nachvollziehbar. Doch Grimm ist von der Überwindbarkeit dieser Schwierigkeit überzeugt und empfiehlt mit Rainer Wahl die »Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts« – von 1952 bis 2023 in über 160 Bänden veröffentlicht – der Zeitgeschichtsforschung als bisher noch ungenutzte Quelle, als noch ungehobenen Schatz. Wer als Historikerin oder Historiker Grimms Buch ohne Vorbehalt liest, dürfte Appetit bekommen, diesem Ratschlag zumindest ein Stück weit zu folgen.

Doch könnte es sein, dass hierbei die unterschiedlichen Empirie-Verständnisse von Historikern und Juristen und damit zusammenhängende Verständnishindernisse zwischen ihnen erst noch überwunden werden müssen. Jedenfalls werden Historiker auf die eigenständig durchgeführte Erforschung der empirischen Sachverhalte und ihrer Verkettungen nicht verzichten können, weder bei der Erkundung der zur gerichtlichen Entscheidung anstehenden Fälle noch bei der schwierigen Abschätzung der Wirkungen von Gerichtsurteilen. Die geschichtswissenschaftliche Auswertung von Verfassungsgerichtsurteilen kann sich ja nicht mit der hermeneutischen Auslegung ihrer Texte begnügen, die vor allem über die Wahrnehmungen, Deutungen und Urteile der beteiligten Richter Auskunft geben kann; sie verlangt auch nicht primär nach ihrer rechtshistorischen Einordnung. Vielmehr erfordert sie ihre politik-, sozial- und diskursgeschichtliche Einbettung, um sie als Produkte komplexer gesellschaftlicher Konstellationen und Prozesse wie auch als Einflussfaktoren begreiflich zu machen, die – neben und in Verbindung mit anderen Faktoren – kurz-, mittel- und langfristig auf ebenfalls hochkomplexe, multikausal bedingte Entwicklungen eingewirkt haben. Das erfordert die Hinzuziehung anderer, nicht-rechtshistorischer Quellen und Literatur, vielfältige Methoden und erheblichen Aufwand, vermutlich für jedes große Verfassungsgerichtsurteil neu.

Doch die Mühe würde sich lohnen. Grimms Buch kann als Leitfaden für eine solche wünschenswerte Erweiterung des üblichen zeithistorischen Forschungsprogramms dienen. Mit der These von der durch das Bundesverfassungsgericht, seine starke Stellung und sein hohes Prestige geförderten Konstitutionalisierung der deutschen Rechtsordnung und Politik zeigt Grimm einen Weg, die Geschichte des Bundesverfassungsgerichts in einen sehr grundsätzlichen, international vergleichenden und auch potentiell kritischen Argumentationszusammenhang zu stellen, einen Weg, der von der historischen Forschung stärker beschritten werden sollte. Ausführlich legt das Buch dar, wie vielfach verknüpft die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit wichtigen gesellschaftlichen und politischen, auch wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen gewesen sind, und wie erkenntnisfördernd die historische Untersuchung dieser Verknüpfungen sein könnte. Dabei interessiert sich der langjährige Verfassungsrichter Grimm stärker für die Wirkungen des Gerichtshofs und die Prägekraft des von ihm gesprochenen Rechts als für die vielfältigen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungsfaktoren, die auf ihn und seine Arbeit eingewirkt haben. Um deren Erhellung wird sich historische Forschung ebenfalls stärker kümmern wollen, et|wa durch sozial- und ideologiegeschichtliche Untersuchungen des Personals und seiner Rekrutierung, durch Reflexion auf das Verhältnis des Gerichts zu anderen Machtzentren im politischen System wie durch die Rekonstruktion und Analyse seiner Verfahren, die zu den – niemals alternativlosen! – Entscheidungen führten, soweit dies angesichts des nicht öffentlichen Charakters der Arbeit des Gerichts möglich ist. Denn daran lässt das Buch Grimms keinen Zweifel: Das Bundesverfassungsgericht ist im Laufe seiner Geschichte zu einem Zentrum der Macht in der Bundesrepublik geworden, dessen auch kritische Thematisierung von großem historischen und allgemeinen Interesse ist.

Dieter Grimm druckt in seinem Band (329–343) seine Auseinandersetzung mit Hans-Ulrich Wehlers »Deutscher Gesellschaftsgeschichte« (München 1987ff.) ab, die er im Jahr 2000 veröffentlicht hatte und auf die Wehler 2003 in Band 4 seines Opus magnum antwortete (XVIIf.). Dabei ging es um die Frage, ob das Recht neben den von Wehler zur gesellschaftsgeschichtlichen Strukturierung ausgewählten »Achsen« Wirtschaft, Sozialstruktur, politische Herrschaft und Kultur als eigenständige fünfte Achse einbezogen werden sollte. Wehler schloss das nicht aus, das sei »eine herausfordernde Aufgabe für einen auf Synthese zielenden Autor«. Er selbst habe Rechtsverhältnisse immer wieder in unterschiedlichen Kontexten behandelt, sich jedoch »der rechtlichen Problematik, die überdies in einer eigenen, komplizierten Fachsprache traktiert wird, nicht gewachsen« gefühlt. Im vorliegenden Band weist Grimm überzeugend darauf hin, dass in keiner früheren Epoche der deutschen Geschichte die Verfassung auch nur annähernd so großen Einfluss auf die Politik ausgeübt habe wie das Grundgesetz in seiner Ausdeutung und Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht. Dem müsse die Zeitgeschichtsschreibung der Bundesrepublik »nach den verschiedenen turns der vergangenen Jahre durch einen juridical oder constitutional turn Rechnung tragen« (324).

Man sieht: Die Frage nach dem angemessenen Ort des Rechts in der Geschichte führt in sehr grundsätzliche und offene Theoriefragen der Disziplin und ihres interdisziplinären Umfelds. Sie wurden in den voranstehenden Überlegungen lediglich angetippt, doch sie verdienen als Herausforderungen an die Zeitgeschichte eine gründliche Diskussion.