Sperrig, aber nicht unlesbar? Zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

[Unwieldly but not Unintelligible? On the Judgments of the German Constitutional Court]

Anna-Bettina Kaiser Humboldt-Universität zu Berlin kaiserab@hu-berlin.de

I. Im 7. Kapitel seiner Monographie »Die Historiker und die Verfassung« bestätigt Dieter Grimm die Liberalisierungsthese der Historiker, bemängelt aber, dass das Bundesverfassungsgericht als wesentlicher Motor dieser Liberalisierung nicht ausreichend in den Blick genommen werde. Eine Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichts sei aber vor allem deshalb zentral, weil sich aus dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes selbst bekanntlich nicht viel ergebe, er vielmehr von der Operationalisierung durch das Bundesverfassungsgericht abhängig sei.

Zwar würden einzelne Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts durchaus zitiert, etwa die Entscheidung zum Deutschlandfernsehen (BVerfGE 12,205) oder die 1. Schwangerschaftsentscheidung (BVerfGE 39,1); zentrale Entscheidungen wie die Lüth- (BVerfGE 7,198) oder die Elfes-Entscheidung (BVerfGE 6,32) suche man dagegen vergebens. Ferner würden die Entscheidungen – wenn überhaupt – recht einseitig rezipiert, etwa das Urteil zum Deutschlandfernsehen als Niederlage für die Adenauer-Regierung und nicht (auch) als Liberalisierungsschub.

Kurz gefasst lautet der Vorwurf an die Historiker: Aktenzentriertheit der Zunft, weshalb die ausführlich begründeten Entscheidungen des Gerichts als Quellen von geringem Interesse zu sein scheinen, Ignoranz größerer disziplinenübergreifender Debatten (Grimm verweist etwa auf den frühen Habermas, der sich intensiv mit der Rechtsprechung des Karlsruher Gerichts auseinandergesetzt hatte) sowie fehlende Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit.

II. Die Geschichtswissenschaft hat bereits reagiert; so suchte der Historiker Markus Payk in einer kritischen Rezension des Grimmschen Werks auf dem Fachportal Clio-online1 die genannten Vorwürfe vor allem mit zwei Einwänden zu entkräften: Zum einen seien allgemeine Grundlinien der Geschichte, wie sie in Überblickswerken dargelegt würden, ein verzerrendes Studienobjekt; Grimm habe die »Fachliteratur im engeren Sinne« außen vor gelassen. Zum anderen lasse sich eine »Fernwirkung« (Grimm,161) der Entscheidungen des Verfassungsgerichts mit historischen Methoden nicht ohne Weiteres ermitteln. Vor großen Thesen, wie sie in den Politikwissenschaften formuliert würden, schrecke die Geschichtswissenschaft aus guten Gründen zurück.

III. Ich möchte diese Einwände von Markus Payk im Folgenden ernst nehmen und eine Probebohrung bei der »Fachliteratur im engeren Sinne« vornehmen; analysiert werden soll Ulrich Herberts Beitrag »Integration der jungen Republik durch Verfassungsrecht?«, der in Michael Stolleis’ Band »Das Bonner Grundgesetz. Altes Recht und neue Verfassung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland (1949–1969)« (Berlin 2006) erschienen ist (85–102). Die in diesem Band enthaltenen Texte gehen zurück auf Referate, die auf dem Deutschen Rechtshistorikertag 2004 in der Sektion zur Juristischen Zeitgeschichte gehalten wurden. Der vorliegenden Probebohrung kommt – sozialwissenschaftlich gesprochen – freilich nur anekdotische Evidenz zu, sie kann kein breiteres Bild vermitteln.

Zwei Fragen an Herberts Text stehen im Zentrum der folgenden Überlegungen:

1. Wie rezipiert Herbert Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts? Werden in seinem Beitrag die von Dieter Grimm ausgemachten Leerstellen gefüllt? Sollte Markus Payk Recht behalten, dass in dieser Spezialliteratur der Historiker endlich die Auseinandersetzung erfolgt, die in den großen Gesamtdarstellungen nicht geleistet werden konnte?

2. Wie geht Herbert methodisch vor? Werden die großen Thesen tatsächlich den Politikwissenschaftlern überlassen?

Vorab: In der Sache scheint der Text Herberts wunderbar zu Grimms 7. Kapitel zur Liberalisie|rung zu passen, stellt doch Herbert gleich in seinem ersten Satz eben die Frage, die auch Dieter Grimm umtreibt: »Welche Bedeutung besitzen das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht für die Integration der jungen Bundesrepublik?«

Ich möchte mit der Frage nach der historischen Methode beginnen. Die »großen Linien, abstrakten Kategorien und theoriegeleiteten Betrachtungsweisen«, die Payk an die Politikwissenschaft abzugeben sucht, scheut Ulrich Herbert nicht. Im Gegenteil, den Politikwissenschaftlern überlässt er dieses Feld nicht. Als einer der Hauptvertreter der Liberalisierungsthese sucht Herbert geradezu nach der großen Linie. Mehr noch, weil für ihn im Hinblick auf die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik die Liberalisierungsthese derart im Zentrum steht, widmet er ihr nahezu seinen gesamten Beitrag. So erfahren wir, dass die bundesdeutsche Gesellschaft sich in den 1950er Jahren wieder an den Werten des Kaiserreichs orientiert habe. Es folgen fünf Seiten Rückblick auf die Zeit um 1900 – da kann natürlich auch noch kein Bundesverfassungsgericht vorkommen. Der Text geht sodann auf die »konservativen Wortführer der 50er Jahre« ein, also auf Gehlen, Freyer und Schelsky. Erst am Ende der 50er Jahre sieht Herbert mit dem »wirtschaftlichen Wiederaufbau« und der »politischen Stabilisierung« (97) Zeit für etwas »Neues« (98). Die westdeutsche Gesellschaft beginne, sich zu liberalisieren. Nun ist der Beitrag schon fast zu Ende, da kommt Herbert schließlich doch noch auf das ihm vorgegebene Thema, die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, zu sprechen. Deren Interpretation muss sich allerdings an die bereits bestehende Hauptthese anpassen. Und da Herbert nicht behaupten kann, dass auch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung der 50er Jahre in ihrer Gesamtheit rückwärtsgewandt gewesen sei, spricht er ihr für die 50er Jahre schlicht die Strahlkraft ab: »Diese […] Position des Bundesverfassungsgerichts entwickelte zunächst jedoch keine direkte Wirkungsmächtigkeit.« Erst wenn man die »zeitliche Perspektive ein wenig« öffne, werde erkennbar, »welche säkulare Bedeutung die hier ergangenen Urteile und die damit verbundenen Wandlungen in der Werteorientierung der westdeutschen Gesellschaft besaßen« (101). Herbert resümiert (100):

»Diese ›Feinsteuerung‹ durch intensive Rechtsprechung zu den Grundrechten hat in vielen Fällen einen Beitrag zur Demokratisierung und zur Liberalisierung Westdeutschlands in den langen 60er Jahren geleistet, auch weil manche Judikate des höchsten Gerichts über den Einzelfall hinaus eine vorbeugende, ja geradezu erzieherische Wirkung entfaltet haben.«

Aber hat Herbert mit diesen Sätzen dann nicht doch noch, wenn auch etwas spät, die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts gewürdigt? Und auf welche Entscheidungen stützt sich Herbert für seine am Ende wohlwollende Würdigung? Im Mittelpunkt steht tatsächlich die Lüth-Entscheidung, die immerhin in einem Absatz geschildert wird. Hier wird auch die Kreation der objektiven Wertordnung genannt. Es folgt eine Aufzählung einiger weiterer wichtiger Entscheidungen (Herbert nennt die Beamtenentscheidung, die Abschaffung des besonderen Gewaltverhältnisses und Entscheidungen zur Gleichstellung). Die Ausführungen bleiben jedoch meist sehr abstrakt, wie der folgende Satz zeigt (99):

»Auf diese Weise entstand mit der Zeit ein immer umfangreicherer Katalog konkreter Anforderungen und Kriterien an staatliches Handeln; zugleich leistete diese Rechtsprechung aber auch einen Beitrag dazu, die Öffentlichkeit für die Existenz und Bedeutung verschiedener Grundrechtspositionen zu sensibilisieren.«

Insgesamt führt auch diese Probebohrung in der unmittelbar einschlägigen Spezialliteratur zur Bestätigung von Dieter Grimms These. Denn für das Bundesverfassungsgericht und seine Rechtsprechung interessiert sich Herbert, obwohl ja Thema seines Beitrags, seltsam wenig. Das zeigt sich nicht nur am geringen Umfang der Beschäftigung mit dem Gericht und seiner Rechtsprechung. Es fällt auch auf, dass Herbert gegenläufige Fakten nicht erwähnt. So wird das Gericht als frei von »Ex-Nazis« präsentiert (87), obwohl bekannt war, dass etwa der einflussreiche Richter Willi Geiger NSDAP- und SA-Mitglied, später auch Staatsanwalt am Sondergericht Bamberg gewesen war; der erste Präsident des Gerichts, Hermann Höpker Aschoff, war, wenn auch kein NSDAP-Mitglied, Abteilungsleiter der Haupttreuhandstelle Ost, zuständig für beschlagnahmtes jüdisches Vermögen.

Einseitig ist auch die Darstellung der Rechtsprechung: Wiewohl das Thema Homosexualität und sexuelle Liberalisierung bei Herbert relativ breit thematisiert wird, findet sich kein Hinweis |auf die rückwärtsgewandte Homosexuellen-Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1957. Staatsrechtliche oder verfassungsgeschichtliche Beiträge werden im Übrigen nur äußerst zurückhaltend zitiert, dafür aber politikwissenschaftliche oder populärwissenschaftliche Darstellungen.

IV. Es bleibt die Frage, warum die Historiker, hier Ulrich Herbert, eine Entscheidungsanalyse derart scheuen. Während Dieter Grimm die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zwar für »sperrige Quellen« hält, aber »nicht unlesbar für Nichtjuristen« (162), möchte ich die Gegenthese aufstellen: Die Entscheidungen des Gerichts sind für juristische Laien kaum zu verstehen! Der Verfassungstext und erst recht die ihn interpretierenden Entscheidungen sind wohl nur ›vordergründig verständlich‹.2Die feinen Nuancen und Weichenstellungen, die etwa hinter der Lüth-Entscheidung stehen, können vermutlich selbst von den meisten examinierten Juristen nicht ohne weiteres rekonstruiert werden. Und so ist es auch wenig verwunderlich, dass die meisten Historiker vor Kontextualisierungen von Gerichtsentscheidungen, die letztlich ein intensives Studium eines ganzen Netzes von aufeinander Bezug nehmenden Entscheidungen erfordern würden, zurückschrecken. Helfen können hier wohl nur interdisziplinäre Kooperationen – und damit bin ich wieder bei der Forderung von Dieter Grimm.

Notes

1 https://www.hsozkult.de/publicati onreview/id/reb-129736, Rezension vom 22.11.2022 (zuletzt aufgerufen am 24.04.2023).

2 Vgl. Andreas Vosskuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion. Ein Beitrag zum Verfassungshandwerk, AöR 119 (1994), 35 (42), der von der »vordergründige[n] Verständlichkeit« der prägnanten Grundrechtsformulierungen des Grundgesetzes spricht.