Integration der Rechts- und Verfassungsgeschichte in die Allgemeingeschichte? Die Perspektive der Historischen Soziologie

[Integrating Legal and Constitutional History into General History? The Perspective of Historical Sociology]

Ingrid Gilcher-Holtey Universität Bielefeld Ingrid.holtey@uni-bielefeld.de

Sollten Rechts- und Verfassungsgeschichte fortan unverzichtbarer Bestandteil der Allgemeingeschichte sein? Gehören Verfassung und Recht in eine Reihe mit Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur? Dieter Grimm plädiert seit den 1980er Jahren dafür. Indes, lassen sich Rechts- und Verfassungsgeschichte in die Allgemeingeschichte integrieren? Es kommt, so meine These, auf das Erkenntnisinteresse und den analytischen Bezugsrahmen an. Denn es stellt sich, anders als Dieter Grimm im Schlusskapitel seines Buches »Die Historiker und die Verfassung« schreibt, für Historiker in Bezug auf die Rechts- und Verfassungsgeschichte nicht nur ein »Wahrnehmungsproblem«. Die Herausforderung, vor die sein Plädoyer die Geschichtswissenschaft stellt, liegt in der Operationalisierbarkeit einer Inklusion der Rechts- und Verfassungsgeschichte in die Allgemeingeschichte. Wie macht man das? Wie schreibt man das?

Ohne Theorie, ohne methodisch-theoretischen Bezugsrahmen, so meine These, geht es nicht, und ein solcher fehlt in den Ausführungen Grimms. Die Historische Soziologie, die als Methode auch zur Geschichtswissenschaft gehört, offeriert einen solchen. Sie bietet Fragestellungen, Begriffe und Hypothesen, Recht und Verfassung in eine historische Gesellschaftsanalyse zu integrieren und die Beziehungsstrukturen transparent zu machen. Wie das funktionieren kann, hat nach Émile Durkheim und Max Weber der französische Soziologe Pierre Bourdieu gezeigt, der Elemente einer Soziologie des juridischen Feldes entfaltet hat. Drei Punkte daraus, die Grimms Forderungen operationalisierbar machen könnten, seien genannt.

1. Recht als Prozess von Konkurrenzkämpfen: Bourdieus feldtheoretische Perspektive auf das Recht grenzt sich vom objektivistischen Rechtsdenken in der Tradition Kelsens, wonach das Recht qua syllogistischer Logik seine eigene interne Dynamik erzeugt, ebenso ab wie von der materialistischen Widerspiegelungstheorie à la Marx. Sie fasst Recht »als geschichtlich konstruierte strukturierte Struktur«, die zur »Produktion der Welt« beiträgt. »Es ist«, so seine These, »nicht übertrieben zu sagen, dass es die soziale Welt macht – wobei es natürlich zuerst von ihr gemacht wird.«1 Wie? Bourdieu definiert das juridische Feld als »Feld von Kämpfen, in dem die Akteure mit je nach ihrer Position in der Struktur des Kraftfeldes unterschiedlichen Mitteln und Zwecken miteinander rivalisieren und auf diese Weise zu Erhalt oder Veränderung seiner Struktur beitragen.«2 Die feldtheoretische Perspektive ist akteurszentriert, rückt die Juristen (Rechtsgelehrte, Richter, Anwälte, Notare) in den Blick einer Wissenschaft vom Recht, und sie ist zugleich relational, indem sie deren Positionierungen/Stellungnahmen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Positionen/Stellungen im Feld betrachtet.

Es sind Konkurrenzkämpfe, die im juridischen Feld als »Kompetenzkämpfe um die Kompetenz«, um »das Recht, Recht zu sprechen«, ausgetragen werden. Auf diese Konkurrenzkämpfe wirken ein, so Bourdieu, a) die Kräfteverhältnisse innerhalb des Feldes (die Hierarchie der Rechtsinstanzen und der Rechtsgebiete) sowie b) Homologien zwischen dem juridischen Feld und anderen Feldern (wie z.B. die Nähe zum Feld der Macht). Es gilt daher, wie Bourdieu schreibt, »die Gesamtheit der objektiven Verhältnisse zwischen dem juridischen Feld – das einer relativ autonomen Logik folgt und selbst schon einen Ort komplexer Verhältnisse darstellt –, zum Feld der Macht sowie darüber hinaus zum gesellschaftlichen Feld insgesamt in den Blick zu |nehmen.« Denn, so seine These, »in diesem Bezugsgeflecht bestimmen sich die Mittel, die Zwecke und die spezifischen Wirkungen rechtlichen Handelns.«3 Ein solches »Bezugsgeflecht« ließe sich, aus meiner Sicht, exemplarisch an einem zeithistorischen Projekt entfalten, das den Aufstieg des neoliberalen Geistes in den 1990er Jahren als Prozess der Interaktion zwischen dem wirtschaftlichen, juridischen und politischen Feld zu erfassen versucht. Die Historische Soziologie in der Tradition von Bourdieu eröffnet aber noch weitere Optionen.

2. Die symbolische Gewalt des Rechts: »Soziale Realität«, so Bourdieu, »existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen.«4 Recht festige »die bestehende Ordnung, indem es ein Bild dieser Ordnung festigt.«5 Es wirkt daher, wie er schreibt, als »paradigmatische Form handelnden Sprechens, das aus eigener Kraft Wirkungen hervorzubringen vermag«.6 Recht verfügt über die Macht der Benennung von Personen, sozialen Gruppen und Konstellationen sowie über die Konstruktion/Kodifizierung von Denkkategorien, Kriterien des Sehens und Einteilens der sozialen Welt. Den symbolischen Effekt rechtlicher Repräsentation sieht Bourdieu dabei in der Ratifizierung der Doxa, der als selbstverständlich wahrgenommenen Kategorisierungen. Neben dem Bildungssystem trage das Recht, so Bourdieu, entscheidend zur Reproduktion der bestehenden Machtverhältnisse bei. Wirke es doch an der Festigung von Sicht- und Teilungskriterien mit, welche die Wahrnehmung der sozialen Welt entsprechend den Kriterien der herrschenden Ordnung orientieren. Juristen tragen so zu dem bei, was für Gesellschafts- und Kulturhistoriker interessant ist: die »Suspendierung des Zweifels […], die […] Welt könne eine andere sein«.7

Geht man davon aus, dass die symbolische Gewalt des Rechts, wie alle symbolische Gewalt, nicht ohne Zustimmung der Beherrschten zustande kommt, bleibt die Frage: Wie erwirkt das Recht diese Zustimmung? Es ist die Selbstrepräsentation des Rechts als Träger und Garant von Rationalität und Universalität, der Bourdieu besondere Wirkungsmacht zuschreibt. Die Grundlage dieser Selbstrepräsentation sieht er in der »Kodifizierungsarbeit, d.h. der Formgebungs-, Formulierungs-, Neutralisierungs- und Systematisierungsarbeit […], die die professionellen Arbeiter am Symbolischen nach den Gesetzen ihres Universums ausüben«,8 und die den Glauben an die Berechenbarkeit und Legitimität des Rechts festigen. Weitere Grundlagen macht er u.a. in der Illusio des juridischen Feldes fest, dem Ethos der Interessenlosigkeit, das alle Akteure eint und sich seit der Renaissance auf einen Gelehrtenhabitus, der humanistischen Kultur entstammend, gründet. Die nicht auf Zwang, sondern symbolische Gewalt beruhende Wirksamkeit des Rechts entfaltet sich, aus Sicht Bourdieus, jedoch »nur insoweit, als das Recht sozial anerkannt ist und – wenn auch nur implizit und teilweise – konsensuell akzeptiert wird, insofern es, zumindest scheinbar, auf reale Bedürfnisse und Interessen antwortet.«9 Versuche, die Welt zu verändern, indem man die Worte der Benennung verändert, gelängen nur, wenn die Kategorisierungen etwas benennen, »was im Kommen ist«.10 Veränderungen im juridischen Feld müssen, so Bourdieus These, von außen kommen. Drei Störfaktoren, wenn man so will, seien genannt, deren Wirkungen auf das juridische Feld Gegenstand historischer Analyse sein könnten.

3. Recht und Gesellschaftskritik durch Intellektuelle, soziale Bewegungen und die Permanenz der Kunst: Erstens, Bourdieu sieht in der Figur des Intellektuellen einen solchen Störfaktor, der potentiell auch das juridische Feld von außen in Bewegung versetzen kann. Er setzt dabei Intellektuelle nicht mit Akademikern gleich, sondern bezieht sich auf eine soziale Rolle, die, von Voltaire in der Affäre Calas geprägt, diesen zum Vorkämpfer einer Strafrechtsreform machte. Drei Eigenschaften, die klar als Gegenposition und Gegeninstitution zum juridischen Feld erkannt werden können, zeichnen diese Rolle aus: a) Verteidigung eines zu Unrecht Beschuldigten, b) Umkehr der Rolle von Anklägern und Angeklagtem, c) Umkehr der Urteile über Ankläger und (Justiz-)Opfer in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit. |

Zweitens: Soziale Bewegungen können Wahrnehmungsveränderungen auslösen und die Sicht- und Teilungskriterien der sozialen Welt verändern. Exemplarisch sei die 68er-Bewegung genannt. Drittens: Die Permanenz der Kunst. Vom literarischen Feld, in dessen Zentrum wie im juridischen Feld die Illusio der Interessenlosigkeit steht, kann Rechts- und Justizkritik ausgehen. Weil wir in Frankfurt sind, sei der Frankfurter Anwalt – 28 Fälle in vier Jahren – Johann Wolfgang Goethe genannt. Pierre Bourdieus Feldtheorie ermöglicht, Gisèle Sapiro hat es gezeigt, literarisches und juridisches Feld zusammenzudenken, Austausch- und Konfrontationsprozesse zu analysieren und vor dem Hintergrund der sozialen Entwicklung der Gesellschaft zu untersuchen und zu erklären. Wer Dieter Grimms Plädoyer folgt, muss nicht zwangsläufig, wie eine juristische Stimme aus Bonn meint, »kleinere Brötchen« backen, möglich ist auch ein Baguette.

Notes

1 Pierre Bourdieu, Die Kraft des Rechts. Elemente einer Soziologie des juridischen Feldes, in: Andrea Kretschmann (Hg.), Das Rechtsdenken Pierre Bourdieus, Weilerswist 2019, 35–78, hier 60.

2 Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998, 18.

3 Bourdieu (2019) 63.

4 Pierre Bourdieu, Loïc Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main 1996, 161.

5 Bourdieu (2019) 59.

6 Ebd., 60.

7 Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt am Main 2001, 221.

8 Bourdieu (2019) 62.

9 Ebd.

10 Ebd., 61.