Die Konstitutionalisierung der Politik. Auch eine Politisierung der Verfassung?

[The Constitutionalisation of Politics: Also a Politicisation of the Constitution?]

Verena Frick Georg-August-Universität Göttingen verena.frick@uni-goettingen.de

Dieter Grimm analysiert im Abschlusskapitel seines Buchs »Die Historiker und die Verfassung« den Prozess der Konstitutionalisierung unter dem Grundgesetz und verweist scharfsinnig auf dessen juridische wie politische Folgekosten: Einerseits werden das einfache Recht und die Fachgerichtsbarkeit durch das vom Bundesverfassungsgericht seit dem Lüth-Urteil immer weiter entfaltete materiale Verfassungsverständnis unter den Vorbehalt der Verfassung gestellt. Beide büßen auf diese Weise ihren Selbststand weitgehend ein. Andererseits wird damit zugleich auch die Politik, die dieses einfache Recht erzeugt, in ihrem Handeln umfassenden verfassungsrechtlichen Bindungen unterworfen. Die Gestaltungsfreiheit der politischen Institutionen findet mit jedem neuen Gerichtsurteil weitere Schranken. Das Resultat dieser doppelten Konstitutionalisierung von einfachem Recht und Politik ist also ein ebenso doppelter Autonomieverlust.

Die folgenden Überlegungen und Rückfragen sind aus der Perspektive einer Politikwissenschaftlerin formuliert, die besonders an jenen Systemgrenzen zwischen Politik und Recht interessiert ist, die Grimm in seinem Abschlusskapitel vermisst. Grimms Diagnose einer unterschätzten Konstitutionalisierung der Politik ist ebenso überzeugend wie treffend. Dennoch möchte ich im Folgenden einige kritische Anfragen an diese Diagnose stellen und argumentieren, dass sie in einem Punkt ein zu einseitiges Bild zeichnet. Sie unterschlägt, dass die Konstitutionalisierung der Politik auch einen Komplementärprozess der Politisierung des Rechts und der Verfassungsgerichtsbarkeit in Gang setzt. Vor diesem Hintergrund gilt es, noch einmal die von Grimm am Ende des Kapitels gestellte Frage aufzuwerfen, nämlich, was zu tun wäre, um der Wirkung der Verfassung im Rahmen einer Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik gerecht zu werden.

Im internationalen Vergleich überraschend ist nicht allein das Ausmaß der konstitutionellen Durchdringung der bundesdeutschen Politik, sondern noch mehr deren Fügsamkeit. Grimm attestiert Deutschland im Vergleich mit anderen Verfassungsstaaten sogar eine Sonderrolle. Die politischen Institutionen missachten bislang weder die Gerichtsurteile, noch trachten sie erkennbar danach, die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts zu beschneiden. Was sind die Gründe für dieses bemerkenswerte Maß an Folgebereitschaft? Grimm führt mehrere Aspekte dafür an, wovon ich einen besonders hervorheben möchte: Der Verfassung wird eine Konsensfunktion im politischen Meinungskampf attestiert. Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit beziehen demnach ihre Autorität gegenüber der Politik aus einer Art objektiven Hüterrolle für die im Grundgesetz eingelagerten Vorstellungen einer gerechten politischen und sozialen Ordnung. Es kommt dem Bundesverfassungsgericht zu, diesen Konsens dann notfalls gegen die Politik zu aktualisieren.

Die Darstellung in dem Kapitel legt nahe, dass Konstitutionalisierung vor allem in eine Richtung verläuft: von den Normen der Verfassung, über die immer weiter reichende und sich ausdifferenzierende Aktualisierung in der Rechtsprechung hin zur Politik, die in ihrem Gestaltungsspielraum immer weiter eingeengt wird. Für die Leserin drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die Gewinner und Verlierer dieser Entwicklung klar verteilt sind. Verfassungsgericht und Verfassung stärken sich wechselseitig auf Kosten der demokratisch legitimierten Politik, mit anderen Worten: Recht und gerichtliche Akteure werden wirkmächtiger im politischen Prozess. Grimm weist zweifellos auf einen zentralen Zusammenhang hin, den es auch aus politikwissenschaftlicher Sicht mit Blick auf die Frage demokratischer Legitimation zu problematisieren gilt. Und dennoch ist die implizite Linearität der Konstitutionalisierungserzählung zumindest zu hinterfragen. Denn eine wichtige Frage wird nicht gestellt, nämlich: Inwiefern wirkt die Konstitutionalisierung der Politik auf die Verfassung und das Gericht eigentlich selbst zurück?

Bei genauerem Hinsehen bleibt es nicht bei der unterstellten Einbahnstraße. Vielmehr erzeugt die Konstitutionalisierung der Politik selbst Rückkopplungseffekte. Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit werden ihrerseits politisiert und verstärkt zum Schauplatz politischer Kämpfe. Alec Stone Sweet hat das in seiner Studie Governing |with Judges (2000) für die europäische Politik anschaulich gezeigt. Eine expansive Spruchpraxis von Verfassungsgerichten, die nicht davor zurückschrecken, der Politik immer neue Beschränkungen aufzuerlegen, provoziert ihrerseits die Instrumentalisierung des Verfassungsrechts für Oppositionspolitik. Mit Stone Sweet sollten wir also von einem sich selbst verstärkenden Kreislauf von Konstitutionalisierung und Politisierung ausgehen.

Und dieser Kreislauf lässt sich auch mit Blick auf die Bundesrepublik verfolgen: Es wurde vielfach darauf hingewiesen, dass die Drohung mit dem sprichwörtlichen Gang nach Karlsruhe zum Standardrepertoire der parlamentarischen Opposition sowie der Länder-Opposition gegen den Bund gehört. Es gibt kaum ein umstrittenes Gesetz, das nicht in Karlsruhe landet. Die politischen Kämpfe finden vor dem Bundesverfassungsgericht regelmäßig eine Fortsetzung, um die jeweiligen politischen Interessen mit juristischen Mitteln durchzusetzen. Das führte die bayerische Reaktion auf die im Bundestag verabschiedete Wahlrechtsreform jüngst erst wieder anschaulich vor Augen. Kaum passierte das neue Wahlrecht den Bundestag, kündigte die CSU-Landesgruppe auch schon an, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.

Was demgegenüber meist weniger Aufmerksamkeit erfährt, ist die Tatsache, dass die Verfassungsklage auch ein Instrument der außerparlamentarischen Opposition ist. Ich meine das lange kaum beachtete und nun vermehrt diskutierte Phänomen der strategischen Prozessführung als ein Mittel des politischen Protests im Recht. Von strategischer Prozessführung spricht man, wenn Individualklagen nicht primär zu individuellen Rechtsschutzzwecken erhoben werden, sondern um das Recht gezielt für politische Interessendurchsetzung zu mobilisieren. Die Strategie lautet, über den Weg juristischer Grundsatzentscheidungen Veränderungen der Politik zu bewirken. Unterstützung erfahren Kläger dabei häufig von Verbänden, Nichtregierungsorganisationen oder religiösen Gemeinschaften, die potenzielle Präzedenzfälle mit entsprechender Breitenwirkung auswählen. Als Beispiel sei der Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts genannt, der zudem die Türen weiter dafür geöffnet hat, die politische Auseinandersetzung über die ökologische Frage künftig verstärkt mit verfassungsrechtlichen Mitteln auszutragen.

Unabhängig davon, wie man diese Entwicklung nun bewerten mag, ob als begrüßenswerte Partizipationschance für Bürger oder als Schwächung der demokratisch legitimierten Organe und problematische Instrumentalisierung der Justiz, für die Verfassung und das Bundesverfassungsgericht ist sie tendenziell prekär: Je mehr das Gericht in Entscheidungen über hochumstrittene Fragen hineingezogen wird, desto schwerer wird es fallen, politische Neutralität und Objektivität zu behaupten. Das gilt umso mehr für die gegenwärtige Gesellschaft, die in vielerlei Hinsicht als gespaltener als die integrierte Gesellschaft der alten Bundesrepublik charakterisiert wird, nicht zuletzt in der ökologischen Frage. In dieser Konstellation dürfte das Bundesverfassungsgericht zunehmend Schwierigkeiten haben, einen Konsens an gerechten Ordnungsvorstellungen zu plausibilisieren.

Was wäre also zu tun? Diese Frage, die Grimm am Ende des Kapitels stellt und die auf die wissenschaftliche Verarbeitung dieser Entwicklung zielt, möchte ich vor diesem Hintergrund noch einmal aufgreifen. Was wäre also zu tun, um der Konstitutionalisierung der Politik und dem Komplementärprozess der Politisierung der Verfassung aus der akademischen Beobachterperspektive angemessen Rechnung zu tragen? Grimm rät insbesondere dazu, den Maßstabsteil der bundesverfassungsgerichtlichen Urteile als »Fundgrube« zu nutzen und ihm die überzeitlichen Grundsätze und dogmatischen Weichenstellungen der jeweiligen Entscheidung zu entnehmen, um auf diese Weise Rückschlüsse auf judizielle Überschreitungen der Grenze zwischen Politik und Recht zu ziehen.

Doch hier sind Vorbehalte angebracht: Sollten wir als Politikwissenschaft (wie auch als Geschichtswissenschaft) dem Rat folgen und die Erzählung der rechtswissenschaftlichen Verfassungsgeschichte und ihre spezifischen Erkenntnisinteressen gewissermaßen mit interdisziplinären Mitteln fortschreiben? Die rechtswissenschaftliche Erzählung ist vor allem eine verfassungsdogmatische, sie erzählt von Verfassungssystematik, verfassungsrechtlichen Leitbildern, Grundentscheidungen der Verfassung, Rechtsprechungslinien sowie von juristischer Logik und Objektivität. Das Politikum des Prozesses selbst muss sie ausblenden.

Gerade hier aber sollte interdisziplinäre Forschung verstärkt ansetzen, denn hier können Politikwissenschaft (und Geschichtswissenschaft) ihre je eigenen Stärken und Erkenntnisinteressen einbringen. Wer klagt? Mit welchen Zielen? Und zu welchem Zeitpunkt? Worauf stützt sich die Klageschrift? Welche Richterpersönlichkeiten sind an |der Entscheidung beteiligt? Wer war Berichterstatter des Urteils? Welche gesellschaftspolitischen Konflikte und welche soziokulturellen Wandlungsprozesse spiegeln sich in den Gerichtsverfahren? Und verfolgt das Gericht womöglich eine implizite Strategie im Umgang mit der Politik? Antworten auf diese Fragen wird man eher nicht im Maßstabsteil finden, man müsste vielmehr im Sachverhaltsteil des Urteils, dem Prozessverlauf und den Prozessakten, den öffentlichen Diskussionen und natürlich im weiteren gesellschaftspolitischen Kontext suchen.

Im Rahmen einer groß angelegten Gesellschaftsgeschichte ist das vermutlich kaum in der Tiefe zu bewerkstelligen. Anders verhält es sich aber mit Blick auf konkrete Urteile oder Rechtsprechungslinien: Die Bände zum Lüth-Urteil sowie zum Brokdorf-Beschluss haben die gesellschaftspolitischen Konflikte im Recht sichtbar gemacht und historisch kontextualisiert. Im Ergebnis würde eine solche genuin interdisziplinäre Konfliktgeschichte der Verfassung den Blick für die Kontingenz, Zeitgebundenheit und damit zugleich auch für die mögliche Reversibilität verfassungsgerichtlicher Entscheidungen schärfen. Vielleicht nicht das Schlechteste, um die Verfassung und die Verfassungsgerichtsbarkeit auch in Zukunft vor politischer Überforderung zu bewahren. Für die Rechtswissenschaft bedeutet das jedoch zugleich, dass sie sich darauf einlassen muss, dass das Ergebnis womöglich eine andere Verfassungsgeschichte und eine andere Erzählung von der Bedeutung der Verfassung für die bundesdeutsche Politik ist; gewissermaßen eine interdisziplinäre Verfassungsgeschichte mit offenem Ausgang.