Verfassungswandel durch Grundgesetzänderungen*

[Constitutional Change Through Adaptations of the Grundgesetz (Basic Law)]

Eckart Conze Philipp-Universität Marburg conze@uni-marburg.de

Historische Gesamtdarstellungen haben es nicht leicht. Sie müssen ihren Syntheseanspruch stützen auf eine Fülle von Spezialliteratur. Das gilt mittlerweile auch für die Geschichte der Bundesrepublik, der sich die zeithistorische Forschung seit 1990 mit größter Intensität zugewandt hat. Diese Intensivierung der Forschung war nicht nur eine Frage des Quellenzugangs und der Sperrfristen, sondern hatte auch damit zu tun, dass mit der deutschen Einheit die Epoche der Zweistaatlichkeit und damit auch die der alten, der westdeutschen Bundesrepublik an ihr Ende gelangt war. Das dynamisierte die Forschung und trug so zur Synthesenbildung bei. Es war die Zeit der Erfolgsgeschichten: bspw. mit Edgar Wolfrums »Geglückter Demokratie« (2006) oder, in weiterer, nationalhistorischer Perspektive, mit Heinrich August Winkler und seinem »Langen Weg nach Westen« (2000).

Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht ließen sich in diese Synthesen und ihr erfolgsgeschichtliches Narrativ problemlos einfügen, so wie schon vorher, vor 1990, in die große von Karl Dietrich Bracher, Theodor Eschenburg und Joachim Fest herausgegebene repräsentative Gesamtdarstellung »Geschichte der Bundesrepublik Deutschland«. Den fünf Bänden, die bis zum Jahr 1982 reichten, fehlte zwar der historische Fluchtpunkt – Fest sprach von »konzeptioneller Ratlosigkeit« –, aber sie bedeuteten doch historiographisch den Abschied vom Provisorium: die Selbstanerkennung der Bundesrepublik und ihrer Geschichte als Teil altbundesrepublikanischer Identitätsbildung. Aber man macht es sich doch etwas zu leicht, wenn man das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht einfach in diese identitätsstiftenden oder erfolgsgeschichtlichen und damit letztlich affirmativen Narrative integriert.

Der »Erfolg« der Bundesrepublik ist in der Retrospektive kaum zu bestreiten. Aber es stellt sich schon die Frage, was man unter »Erfolg« verstehen will, wie »Erfolg« gemessen werden kann. Nach Weimar und dem Nationalsozialismus ist es leicht, von »Erfolg« zu reden. In gewisser Weise wurde die Geschichte der Bundesrepublik, einschließlich ihrer Verfassungsgeschichte, von 1990 her geschrieben, nicht von 1945 oder 1949 her. Das war insofern nicht unproblematisch, als die Perspektive auf die Überwindung der Teilung dazu verführen konnte, die Konflikte, Problemlagen, Widersprüche oder Defizite der Bundesrepublik tendenziell harmonisierend in einer »Großen Erfolgserzählung« aufzuheben. Das birgt die Gefahr einer rein affirmativen Bestätigung von politischem Handeln und gesellschaftlichen Entwicklungen. Von einem »stolzen Schiff« und einigen wenigen »krächzenden Möwen«, Zeitgenossen und Historikern, hat schon 1985 Christoph Kleßmann mit Blick auf die Bundesrepublik-Historiographie gesprochen. Das gilt auch für die Zeit nach 1990.

Die großen Grundgesetzänderungen der 1950er und 1960er Jahre lassen sich leicht in solche erfolgsgeschichtlichen Narrative integrieren, und dann muss man sie, wie die Entwicklung und den Wandel der Verfassung insgesamt oder auch die Rolle und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nicht vertieft analysieren und problematisieren. Das gilt bspw. für die Wehrverfassung von 1956. Was wir bei Dieter Grimm lesen, spiegelt die dominierenden Geschichtsdarstellungen wider: die Wiederbewaffnung als zunächst erbitterte Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition; dann die in der zweiten Legislaturperiode möglich gewordenen Verfassungsänderungen, danach der Kurswechsel der |SPD, gewissermaßen auf dem Weg nach Godesberg, ihre Zustimmung zur eigentlichen Wehrverfassung. Die entscheidenden Entwicklungen spiegelten sich indes nur zum Teil in der Verfassung. Sicher, die Bundeswehr wurde zur Parlamentsarmee. Aber die Demokratisierung der Streitkräfte war doch ein konfliktreicher Prozess: der schwierige Abschied von Militarismus und Bellizismus trotz der Idee des »Staatsbürgers in Uniform« und des Konzepts der »Inneren Führung«; oder die Legende von der »sauberen Wehrmacht« zur Pazifizierung und Integration der Wehrmachtssoldaten und Wehrmachtsoffiziere.

Auch die Notstandsverfassung von 1968 lässt sich leicht in ein erfolgsgeschichtliches Licht rücken: die Notwendigkeit, spätestens seit 1955, eine Lücke im Grundgesetz zu schließen; die Versuche der Unionsregierungen in den frühen 1960er Jahren, für ihre Entwürfe die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit zu gewinnen; und dann nicht die »Stunde der Exekutive«, sondern die Stunde der Großen Koalition, die Zustimmung der SPD zu einem Entwurf, der die ursprünglich vorgesehenen Notstandsbefugnisse der Regierung deutlich abschwächte, die Parlamentsrechte sicherte, Grundrechtsbeschränkungen begrenzte und schließlich ein eher symbolisches Widerstandsrecht einführte. Die Geschichte der Verfassungsänderung hat fraglos ihre eigenständige Bedeutung, sie erschöpft sich aber nicht darin.

Denn zur Geschichte der Notstandsverfassung gehört jenseits der parlamentarischen Verfassungsänderung ihre Rolle in den Prozessen politischer und gesellschaftlicher Demokratisierung und Liberalisierung; ihre Bedeutung für die Entstehung bzw. die weitere Entfaltung einer kritischen politischen Öffentlichkeit in einem wichtigen nächsten Schritt nach der Spiegel-Krise; und schließlich der kontinuierliche Vergangenheitsbezug dieser Entwicklungen: der Nationalsozialismus als Argument – der Gegner übrigens wie der Befürworter der Notstandsgesetze. Hier begegnen vergangenheitsbezogene Ängste, das Ende von Weimar, die Herrschaftssicherung des Nationalsozialismus – fast könnte man für die Frühzeit der Bundesrepublik von Angstobsessionen sprechen – und öffnen eine Perspektive auf Verfassungsgeschichte als Emotionsgeschichte.

Das Grundgesetz war – und ist – zwar keine umstrittene Verfassung, aber es war doch in einzelnen Bestimmungen – Wehr- und Notstandsverfassung machen das deutlich – eine immer wieder umkämpfte Verfassung. Auch das würde, als Teil einer Emotionsgeschichte der bundesrepublikanischen Demokratie, eine Emotionsgeschichte des Grundgesetzes rechtfertigen, die es so noch nicht gibt – im Unterschied zu vergleichbaren, vielleicht näher liegenden Studien zur Weimarer Verfassung im Spannungsfeld von Hoffnung, Erwartung, Stolz, Enttäuschung, Wut und Hass. Und Emotionen wären womöglich, auch analytisch, eine Brücke zwischen Verfassungsrecht und Verfassungskultur.

Die Geschichte des Grundgesetzes, und zwar insbesondere als Wirkungsgeschichte, erschöpft sich nicht in Verfassungsänderungen und der Karlsruher Rechtsprechung, und es ist daher auch nicht damit getan, diese Aspekte gewissermaßen additiv in Gesamtdarstellungen aufzunehmen. Wichtiger scheint eine systematische analytische Integration, die freilich ein Verständnis von Verfassungsgeschichte als Zeitgeschichte braucht, also eine nicht allein normen- und dogmengeschichtliche Verfassungsgeschichte, sondern eine Verfassungsgeschichte, die sich für die Verfassung – und für Recht allgemein – interessiert, um politische, gesellschaftliche oder kulturelle Entwicklungen erklären zu können; die aber umgekehrt die Entwicklung von Recht auch aus politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Kontexten oder Bedingungen heraus erklärt. Dabei kann man sich auf Staatsrechtler wie bspw. auf Konrad Hesse beziehen, für den die Normativität einer geltenden Verfassung stets die Normativität einer, wie er es nannte, geschichtlich-konkreten Ordnung war; denn das Leben, das eine Verfassung ordnen solle, sei, so Hesse, geschichtlich-konkretes Leben.

Das kann man postulieren – und in gewisser Weise tut das ja auch Dieter Grimm –, aber es braucht dafür eben ein weites Verständnis von Verfassungs- und Rechtsgeschichte, das sich nicht auf Entstehung und Anwendung von Normen beschränkt, sondern bspw. auch Richterbiographien einbezieht. Michael Stolleis hat einmal von der »inneren Sozialgeschichte des Verfassungsgerichts« gesprochen (das gilt natürlich auch für andere Bundesgerichte). Und es geht dabei auch um breitere gesellschaftliche Verfassungsdiskurse. Es geht dabei, wie Dieter Grimm zu Recht betont, um die politisch-soziale Relevanz des Rechts und insbesondere des Verfassungsrechts. Aber das sollte man nicht allein wirkungsgeschichtlich verstehen. Die Wirkungsgeschichte des Verfassungsrechts: Das wäre zwar schon viel, aber es wäre eindimen|sional. Es würde in gewisser Weise Böckenfördes These vom »verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat« historisch unterfüttern. Doch eine Gesellschaft, eine Zeit, wenn man so will, wirkt auch ihrerseits auf das Recht ein, sie macht das Recht und die Rechtsentwicklung zum Gegenstand öffentlicher und damit politischer Kommunikation und beeinflusst sie dadurch. Recht, gerade öffentliches Recht, folgt auch gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, wenngleich es diese sicher nicht lediglich widerspiegelt.

Ganz pragmatisch braucht die Forschung für eine solche integrale, nicht additive Verfassungsgeschichte quellenbasierte Einzelstudien, ohne die die Synthetisierung nicht möglich ist. Auch das ist ein Teil der Antwort auf die Kritik von Dieter Grimm, obwohl sich die Forschungsentwicklung erkennbar zu verbessern begonnen hat. Man muss die Verfassungsgeschichte und das Verfassungsgericht selbst historisieren, nicht monumentalisieren oder musealisieren. Solche Studien freilich stehen und fallen mit ihren Quellen. Die Verfassung, Verfassungsänderungen und verfassungsgerichtliche Entscheidungen (einschließlich ihrer Begründungen) sind fraglos wichtige Quellen. Ob sie besonders authentische Quellen sind und worin diese besondere Authentizität bestehen soll, das bedarf weiterer Diskussion. Eine Verfassungsgeschichte im Sinne von Dieter Grimm könnte indes erheblich von der Auswertung insbesondere der richterlichen Beratungen profitieren. Nicht zuletzt darauf zielt aus rechtswissenschaftlicher Sicht die Studie »Beratungskulturen« von Gertrude Lübbe-Wolff (2022). Einer genuin geschichtswissenschaftlichen Analyse der richterlichen Beratungen steht aber nach wie vor – und auch bezogen auf historische Entscheidungen – das Beratungsgeheimnis entgegen, das sich mit Blick auf das Verfassungsgericht in einer Sperrfrist von 60 Jahren manifestiert, also am Ende der Ära Adenauer liegt. Es ist, um diejenige Forschung zu befördern, die Dieter Grimm zu Recht anmahnt, dringend geboten, die historische Forschung nicht nur zu erleichtern, sondern insoweit erst zu erlauben. Nur so kommen wir über eine rein entscheidungskonzentrierte, eine dezisionistische Verfassungsgeschichte und insbesondere Verfassungsgerichtsgeschichte hinaus; nur so wird Historisierung möglich.

Notes

* Dieser Beitrag geht zurück auf mein Statement zu Dieter Grimms »Die Historiker und die Verfassung«, Kap. IV, auf dem Workshop am 3. Februar 2023 am mpilhlt. Der Text wurde nur geringfügig überarbeitet, der Vortragsduktus beibehalten.