Welche »Wirklichkeit«?*

[Whose »Reality«?]

Pascale Cancik Universität Osnabrück lscancik@uni-osnabrueck.de

Der Untertitel von Dieter Grimms Buch lautet: Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes. Man kann es lesen als Nachweis und Vorwurf: Die Allgemeinhistoriker:innen berücksichtigten Verfassungsgeschichte, genauer die vom Bundesverfassungsgericht geschriebene Verfassungsgeschichte nicht ausreichend. Das führt zu der Frage, wer eigentlich die Wirkungs- Geschichte von Recht und damit auch von Gerichten schreiben muss, sollte, darf. Aus der Perspektive einer Juristin, die (auch) Verwaltungs(rechts)geschichte betreibt, wäre die kurze Antwort: Historiker:innen sollten Wirkungen von Recht (mehr) berücksichtigen, aber Rechtswissenschaftler:innen sollten das auch tun und müssen es mehr tun bzw. deutlich machen, dass sie es tun, nicht zuletzt um der Geschichtswissenschaft Angebote zu machen. Letzteres leistet das Buch in prägnanter Weise. So weit, so einfach.

Der für den Workshop gestellte Auftrag setzte breiter an: Man möge zum Verhältnis zwischen Allgemeiner Geschichte und Rechts- bzw. Verfassungsgeschichte beitragen. Ein Versuch in sieben Punkten.

1. Dieter Grimms Buch ist, auch, eine weitere Station einer lang andauernden Kontakt-, Vergewisserungs- und Abgrenzungsdebatte zwischen Rechtswissenschaftler:innen und Historiker:innen. Diese Debatte wird regelmäßig wiederaufgenommen, hat ihrerseits Geschichte. Innerhalb der Rechtswissenschaft erscheint die unzureichende Wahrnehmung von Rechts-Geschichte(n) in anderer Gestalt. Sie wird sichtbar in kritischen Beiträgen zum a-historischen Jurastudium, in Überlegungen zum damals neuen Fach der juristischen Zeitgeschichte, in Verhältnisdebatten von Zeithistoriker:innen und nicht zuletzt in der Gründung von bi-disziplinären Arbeitskreisen.

Die Debatte hat nicht erreicht, was besonders nötig wäre: die Institutionalisierung von ausreichenden Strukturen in rechtswissenschaftlichen Institutionen jenseits der Max-Planck-Institute, die interdisziplinäre Arbeit am Recht, etwa Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie, durch Jurist:innen und »anders Disziplinierte« ermöglichen. Das Anfang des 20. Jahrhunderts noch verbreitete Fach Staatswissenschaften, vielleicht genauer: der damit bezeichnete Zugriff an juristischen Fakultäten, ist der Ausdifferenzierung in Disziplinen und Subdisziplinen des geltenden Rechts gewichen, vielleicht auch der sogenannten juristischen Methode, die bei Gelegenheit noch immer als methodisch überlegen, wenn nicht einzig zulässig markiert wird. Umgekehrt gibt es auch in den Instituten für Zeitgeschichte offenbar keine Stellen für juristisch Sozialisierte.

Ebenso wenig hat die Debatte eine seriöse (Re-)Institutionalisierung der entsprechenden Lehrinhalte im Jurastudium erreicht. Dass neuere gesetzliche Vorgaben im Deutschen Richtergesetz daran ernsthaft etwas ändern, bleibt angesichts der Verweigerung von Ressourcen für die Umsetzung unwahrscheinlich. Individuelle Bemühungen gibt es.

Sie sind und bleiben also frustrationsgefährdet, diese Debatten, dennoch für inter- oder multidisziplinäre Forschungszugriffe nicht nutzlos, auch wenn sie in einer gewissen Wiederholungsschleife stecken.

2. Der Zugriff von Grimm, Wahrnehmungs-Defizite von Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeitspraxis gerade bei Allgemeinhistoriker:innen in deren Allgemeindarstellungen aufzusuchen, könnte leicht und mit gewissem Recht kritisiert werden, weil er verkenne, wieviel |Rechts-Wahrnehmung es in den spezialisierten Geschichtsdisziplinen und in konkreten historischen Arbeiten gibt. Das wird dem Buch nicht gerecht, weil Grimm diese Begrenzung selbst thematisiert und es ohne Begrenzung nicht geht. Die emotional distanzierte, also nicht auf »Das ist unfair«-Ärgernisse zielende Anfrage an das Buch aber bleibt: Inwiefern ist es wissenschaftlich fruchtbar, die Suche nach Verfassungsrechtswahrnehmungsdefiziten auf die Großdarstellungen allgemeiner Geschichte zu richten? Es ist ein Erfolg des Buches, wenn sich (Allgemein-)Historiker:innen zu dieser Frage verhalten, das Gespräch ermöglichen.

Indessen geht es wohl gar nicht (nur) um Wissenschaft, sondern um die Anteile an der Welterklärung, die zeithistorischen Beiträgen oft eignen. Es geht um einen Geltungsanspruch im weiteren Sinne und die Konkurrenz darum. Wer bestimmt die relevante »Wirklichkeit«?

3. Abgrenzungsdebatten sind institutionenlogisch häufig rational, wissenschaftlich eher nicht. Um jedoch die Wahrnehmung methodisch gegebenenfalls wichtiger Differenzen nicht einzuebnen, schlage ich vor, ein bisschen Abgrenzung beizubehalten, indem wir – für das Feld der Rechtsgeschichte – von juristischen und historischen Rechtshistoriker:innen sprechen, um auf eine vermutete, immerhin anekdotisch evidente Differenz im Zugriff hinzuweisen und sie als gegenseitige Defizitanerkennungsgrundlage fruchtbar zu machen.

4. Lässt man sich auf die Zielsetzung von Grimm ein, scheint mir entscheidend der herausgearbeitete Unterschied von formaler und materialer Verfassung. Letztere ist zentraler Punkt für die Grimmsche Bedeutungsbehauptung zugunsten der Verfassungsrechtsprechung. Diese stellt eben Recht im Sinne von »Rechtswirklichkeit« her, konstruiert »das Recht«, entwickelt erst Maßstäbe für die Prüfung des ganzen anderen geschriebenen und praktizierten Rechts und schreibt insofern an »der« Geschichte mit. Gut sichtbar wird das in Grimms Buch etwa beim Parteienrecht, wie auch im Feld der Gleichheits-/Ungleichheitsrechtsprechung.

Ironischerweise (?) ist es gerade ein materialer Verfassungsbegriff im Sinne von Verfasstheit, der nicht nur am Normtext, sondern gerade auch an Institutionen, an tatsächlicher politischer Herrschaft, an »Wirklichkeit« ansetzt, der Historiker:innen nahe sein müsste.

Nun ist die juristische Unterscheidung »materiell-formell« oder »material-formal« durchaus vage und führt vielleicht eher zu einer Illusion gemeinsamer Begrifflichkeit als zur Klärung. Ich formuliere deshalb das an sich etwas Triviale einmal anders: Recht, sogar formelles Recht, also Organisations- und Verfahrensrecht, ist materiell, ist relevante »Wirklichkeit«, verarbeitet »Wirklichkeit«, wirkt als Motor oder Hemmung für »Wirklichkeit«. Es ist (klein- und großgeschrieben) material/Material für alle Bindestrich-Disziplinen oder Bindestrich-Perspektiven der Geschichtswissenschaft, etwa der Wirtschaftsgeschichte, der Sozialgeschichte, der Geschlechtergeschichte und so fort. Im gewissen Sinn teilen Recht und Geschichte eine Eigenschaft: Sie kleben potenziell an allem, also auch am »Allgemeinen«, was immer die Allgemein-Historiker:innen darunter jeweils verstehen wollen.

Andere Vorstellungen von Recht scheinen mir reduktionistisch, manchmal vielleicht gar ein Stück weit ressentimentgeleitet. Für die Geschichtswissenschaft könnte dieses materiale Verständnis von Recht, die Materialproduktion durch die Rechtsakteure eigentlich eine gute Nachricht sein.

5. Historiker:innen erklären eine gewisse Rechtsferne oft damit, dass Recht so kompliziert sei. Manchmal stimmt das. Ich möchte einen weiteren möglichen Grund für disziplinäre Abstandshaltungen ansprechen: die von Jurist:innen angeblich behauptete oder implizierte A-Historizität juristischer Aussagen.

Der – für das Recht und seine Praxis – erforderliche Geltungsanspruch scheint mir notwendig verbunden mit der Behauptung einer gewissen Überzeitlichkeit und Nicht-Kontingenz. Oder, etwas vorsichtiger, einem Ausblenden von Historizität. Ein Gericht, das formulierte, die beurteilte Handlung sei jedenfalls für den Moment gerade rechtswidrig, würde wohl Irritation hervorrufen.

Diese Historizitäts-Ferne ist für die Wirkweise von Recht als Recht funktional und möglicherweise unverzichtbar. Hinter dem recht un-öffentlichen Kampf um die Frage, wo das Archiv der Bundesverfassungsgerichts-Rechtsprechung sein solle – am Gericht selbst oder im Staatsarchiv – und wie lange die Archivfristen sein sollten – 30, 60 oder besser 120 Jahre –, stand vermutlich ein Unbehagen der Richter, zum Untersuchungsobjekt zu werden. Vielleicht konnte man aber darüber |hinaus auch einen Sicherungsversuch für erreichte Normativität beobachten, so meine spekulative These.

Wenn aber die zumindest rhetorische Ausblendung der eigenen Historizität für »das« Recht, für das rechtlich gebundene Entscheiden, das Funktionieren von Normativität, die »Behauptung« von Rechtsgeltung besonders wichtig, vielleicht geradezu existenziell ist, dann wäre das eben nicht nur als Jurist:innen-Arroganz wahrzunehmen, als Selbstüberschätzung der eigenen Bedeutung, als fehlgehender Positivismus oder als Versuch, sich der kritischen Befragung durch die Geschichtswissenschaft zu entziehen, sondern als Funktionsbedingung von Recht(-spraxis). Diese ist dann zugleich historisch relevant und näher untersuchbar. Ein solcher Verständnisversuch schiene mir ein hilfreicher Annäherungsschritt zwischen den Disziplinen. Und dabei hülfe auch, zur Kenntnis zu nehmen, dass nicht nur in der Rechtswissenschaft historische Kontextualisierung durchaus gefordert und auch geleistet wird, sondern auch in manchem Verfassungsgerichtsurteil. Inventing traditions ist in gewisser Weise eine juristische Kernkompetenz.

6. Verfassungsrechtliche Texte, insbesondere neuere Gerichtsurteile, die lange Traditionsketten berücksichtigen bzw. herstellen, sind nicht immer leicht lesbar, aber doch vergleichsweise leicht anschlussfähig für andere Disziplinen. Was aber ist mit dem »anderen Recht«, z.B. dem praktizierten Verwaltungsrecht, das so zentral für Rechtsstaat, Verfassungsverwirklichung, Gesellschaft und Wirtschaftsordnung ist?

Erweitert man den Blick in dieser Weise, ist der Befund defizitärer Wahrnehmung der Verfassungsgerichtsrechtsprechung möglicherweise gar nicht das größte Defizitproblem. Was nicht heißen soll, dass es ein Defizit nur der Historiker:innen wäre.

7. Es bleibt zu wünschen, dass Grimms Erkenntnisse von Historiker:innen wie Rechtswissenschaftler:innen als Angebot und seine Kritik als Fragemodell aufgegriffen werden. Weiterführend scheint mir u.a. die bei Grimm anklingende Frage, was das BVerfG nicht entschieden, nicht geklärt, offengelassen, zurückgegeben hat an andere Akteure. Aber auch das Monitum, dass Historiker:innen einigermaßen gelungene Ordnungsleistungen und die damit verbundenen Kämpfe, gleichsam die rechtlichen Normalitäten, weniger registrieren als aufregende (Un-)Rechtsskandale, wäre der Überprüfung wert. Und wir könnten die Perspektive umkehren und fragen, welche historischen Defizite sich in Gerichtsentscheidungen finden, oder etwas umfassender: Wie machen Jurist:innen eigentlich von Geschichte Gebrauch, wenn sie Recht setzen, sprechen, analysieren? Auch dafür müssen die beteiligten Wissenschaftler:innen allerdings Recht gemeinsam lesen.

Notes

* Der Beitrag entspricht in Form und Inhalt dem mündlichen Impuls, der auf dem Workshop am 3. Februar 2023 zu Dieter Grimms Buch »Die Historiker und die Verfassung« am mpilhlt gegeben wurde; einige Punkte sind etwas ausführlicher formuliert, als es bei der Veranstaltung möglich war.