Die sozialliberalen Reformen auf dem Prüfstand: zur Abtreibungsfrage

[The Reforms of the West German SPD-FDP Coalition Government Under Judicial Scrutiny: The Constitutional Court’s Decision on Abortion]

Birgit Aschmann Humboldt-Universität zu Berlin birgit.aschmann@hu-berlin.de

»Hast du schon mal mit Juristen zusammengearbeitet?«, fragte mich vor einigen Jahren eine Kollegin, immerhin die Vorsitzende des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte. Sie rechnete offenbar mit einem »Nein«, was Bände darüber spricht, wie ausbaufähig die Verbindungen zwischen Geschichts- und Rechtswissenschaften tatsächlich noch sind. Doch zu ihrer offensichtlichen Überraschung konnte ich die Frage bejahen. Denn ja, ich hatte erst unlängst eine Tagung gemeinsam mit Christian Waldhoff organisiert, nämlich zur spanischen Verfassung von 1978. Nicht nur durch Christian Waldhoff, sondern auch durch die Debattenbeiträge von Dieter Grimm, der nur vier Tage zuvor unter dem Titel »Auf Bewährung« (10.12.2018) einen großen FAZ-Artikel zum Grundgesetz veröffentlicht hatte, wurde es eine spannende, komparatistisch inspirierte Konferenz.

Für mich stellte es sich als ungemein lehrreich heraus, die Vergangenheit Spaniens durch die Brille der Verfassungsgeschichte in den Blick zu nehmen. Und nur wer die so problematische Rolle des spanischen Verfassungsgerichts in Rechnung stellt, kann die Eskalationen in der jüngeren Geschichte des katalanischen Separatismus nachvollziehen. Anders als das deutsche Verfassungsgericht genießt das spanische Pendant durch die Verknüpfung mit parteipolitischen Interessen kein sonderlich hohes Prestige. Dabei vergisst die bundesrepublikanische Zeitgeschichte allzu bereitwillig – wie es ihr Dieter Grimm ins Stammbuch geschrieben hat –, dass es um die Anerkennung des Bundesverfassungsgerichts auch einmal anders bestellt war. Der Tiefpunkt des Prestigeabfalls war just in den Jahren der sozialliberalen Reformen erreicht, die – wie es in Grimms Kapitel IX heißt – vom Verfassungsgericht »auf den Prüfstand« gestellt wurden. Rückwirkungen auf das Ansehen des Gerichts hatten gerade diejenigen Urteile, die die Reformen der sozialliberalen Koalition ausbremsten.

In besonderer Weise gilt das für die Gesetzgebung zur Abtreibungsfrage, die ich beispielhaft deshalb herausgreifen möchte, weil ihr erstens durch die aktuellen Debatten über §218 StGB erneut Gegenwartsrelevanz zukommt; weil zweitens zentrale Prozesse der Zeitgeschichte wie der Beginn der neuen Frauenbewegung damit verknüpft sind; und drittens, weil sich hier noch besondere Forschungsdesiderate auftun, die exakt mit der Schnittstelle zur Rechts- bzw. Verfassungsgeschichte zu tun haben.

Dabei möchte ich denjenigen Akteur in den Vordergrund rücken, der in den von Dieter Grimm analysierten Geschichtswerken ungefähr ebenso beiläufig (wenn überhaupt) erwähnt wird wie das Verfassungsgericht: Es geht mir um den Einfluss der katholischen Kirche. Dass ich mich auf deren Aktivitäten konzentrieren will, hat nicht nur damit zu tun, dass die Mitgliedschaft in dieser Institution Dieter Grimm und mich verbindet. Es liegt vor allem an besagtem Forschungsdefizit, dem ich mich im Rahmen eines Forschungsprojektes stellen will, das die Bedeutung des Katholizismus in der Abtreibungsdebatte der 1970er Jahre ausleuchtet und damit zugleich dafür wirbt, die Relevanz des Katholizismus für die Zeitgeschichtsforschung neu zu vermessen.

Für dieses Vorhaben erwies sich die Anregung von Grimms Buch, die Rechts- bzw. Verfassungsgeschichte stärker zu berücksichtigen, als ungemein produktiv. Schon der Rat, die Quellenbasis durch die (gründliche) Lektüre der Verfassungsgerichtsurteile zu erweitern, war Gold wert. So führt die Begründung des Urteils nicht nur die entscheidenden Etappen der Gesetzgebung, sondern auch die Motive der Juristen vor Augen, sich der vom Bundestag beschlossenen Fristenlösung entgegenzustellen. Zugleich aber illustriert das abweichende Votum der Dissenter Helmut Simon und Wiltraut Rupp-von Brünneck, wie plausibel auch abweichende Positionierungen waren, die bei der Abstimmung immerhin nur knapp 5:3 unterlagen.

Womöglich hilft wiederum die geschichtswissenschaftliche Perspektivierung auch den Juristen, die Dimension dieses abweichenden Urteils anders zu sehen. Christian Waldhoff gab mir zu verstehen, dass der zentrale Unterschied darin liege, dass Wiltraut Rupp-von Brünneck dem Parlament in der Entscheidung den Vorrang überlassen wollen würde. Dieter Grimm betont als Kern des Votums die Verneinung einer Pflicht zum Einsatz des Strafrechts. Ich als Nicht-Juristin finde hingegen in |diesen Quellen insbesondere bemerkenswert, wie sehr hier die Belange, die Interessen und Gefühle betroffener Frauen in Rechnung gestellt wurden. Das unterscheidet dieses Votum rigoros von den zahlreichen Einlassungen aus dem Raum der katholischen Kirche, in denen dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen kaum Platz eingeräumt wurde. Den Autonomieansprüchen der Frauen setzte die Kirche deren Unterordnung unter vermeintlich gottgegebene Anforderungen der Natur und Ordnungsvorstellungen der katholischen Gesellschaft entgegen.

Wie groß aber war nun der Einfluss der katholischen Kirche? Thomas Darnstädt zufolge bildeten »Verfassungsrecht, Politik und katholische Heilslehre […] eine zäh klebende Masse«.1 Alice Schwarzer ist sich ganz sicher: die katholische Kirche habe die Fristenlösung, die die sozialliberale Koalition gewollt habe, verhindert. Aber war es nicht das Verfassungsgericht, das diese Reform verhindert hat? Oder hat womöglich die katholische Kirche auf das Verfassungsgericht entscheidend eingewirkt?

Ich habe darauf keine endgültigen Antworten, sondern kann nur Fragen aufwerfen bzw. mit Thesen provozieren. So ist anzunehmen, dass die Ausleuchtung der Zusammenhänge – wie auch bei der Verhinderung Horst Dreiers als Verfassungsrichter – Einblick gewährt in die (wie Horst Dreier sich äußerte) »manchmal zweifelhaften Legitimationsstränge demokratischer Entscheidungen«.2

Inwieweit konfessionelle Zugehörigkeit Verfassungsrichter beeinflussen kann, haben Oliver Lepsius und Anselm Doering-Manteuffel nicht zuletzt am Beispiel des Protestanten Helmut Simon nachgewiesen.3 Die Richter, die das abweichende Votum unterschrieben, gehörten beide zur evangelischen Kirche. Den Einfluss der katholischen Kirche auf die Verfassungsrichter hat – soweit ich weiß – noch niemand untersucht. Dabei müsste nach folgenden fünf Einflussmöglichkeiten gefragt werden, über die die katholische Kirche auch das Denken und Handeln katholischer Richter bestimmt haben könnte:

Erstens (1) geht es um Sozialisation – könnte doch für Interpretationspräferenzen der Verfassungsrichter nicht nur die akademische, sondern auch die familiäre Herkunft eine wichtige Rolle spielen.4 Was heißt es z.B., wenn über Hans Brox in einem biographischen Abriss zu lesen ist, ihn habe die »überzeugt katholische Familie« mit dem »tiefgläubigen Elternhaus« »nachhaltig geprägt«?5 Im selben Beitrag heißt es, Brox habe sich dem »Schutz des werdenden Lebens«, um das es im Abtreibungsurteil ja ging, »aus Gewissensgründen streng verpflichtet« gefühlt.6 Dergleichen zeigte sich z.B. im Mai 1973, als Brox in der Paderborner Bistumszeitung »Der Dom« für die Beibehaltung der Strafandrohung im Abtreibungsrecht warb; eine staatliche Duldung der Abtreibung wäre »Verfassungsunrecht«.7 Des Weiteren (2) müsste nach der Integrations- und Mobilisierungskraft katholischer Verbände gefragt werden. Welchen Eindruck machte es, wenn der BDKJ junge Menschen in Massen im Zuge von Sternmärschen für das Leben auf Bonn zurücken ließ? Was bedeutete es, dass der Berichterstatter Hans Joachim Faller Mitglied der katholischen Studentenverbindung KDStV Aenania München war, was ihn mit Willi Geiger verband, Richter im Zweiten Senat und Präsident des Bamberger Katholikentags von 1966 – und der sich im Übrigen 1979 (inzwischen im Ruhestand) be|reiterklärte, dem Münchener Erzbistum bei der Einfädelung einer weiteren Verfassungsbeschwerde beratend zur Seite zu stehen.8 (3) Welche Rolle spielte die Erfahrung in Kirchengemeinden, in denen z.B. Kardinal Döpfner, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und Erzbischof von München und Freising, im Vorfeld der Verkündigung des Verfassungsgerichtsurteils Fürbittgebete zugunsten des Lebensschutzes verteilen ließ?9 (4)Wie wirkte sich die parteipolitische Schnittstelle aus, setzte doch die Überzeugungsarbeit katholischer Akteure gezielt bei den Mitgliedern von CDU und CSU an? Auch wenn die Parteizugehörigkeit nicht grundsätzlich das Abstimmungsverhalten der Richter präjudizierte, so fällt doch auf, dass mit Wiltraut Rupp-von Brünneck die SPD-Mitglieder Karl Haager und Helmut Simon gegen den Mehrheitsentwurf stimmten, der wiederum von sämtlichen CDU-nahen Richtern unterstützt wurde. (5) Bliebe schließlich das Augenmerk auf das konkrete Engagement derjenigen Juristen zu richten, die in besonderer Weise die Verflechtung von Justiz und Katholizismus repräsentierten. Das bezieht sich auf Verfassungsrichter wie Willi Geiger oder Ermin Brießmann, Richter am OLG München, der sich als Vorsitzender des Münchener Katholikenrats und Vorstandsmitglied des Vereins »Aktion für das Leben« noch 1979 dafür einsetzten wollte, die bayerische Staatsregierung für eine Normenkontrollklage gegen die seit 1976 geltende Indikationslösung zu gewinnen.10 Aber das bezieht sich auch auf Paul Kirchhof und Ernst-Wolfgang Böckenförde, die – so erinnerte sich zumindest Kardinal Lehmann – dafür Sorge trugen, dass ein Text des Kardinals, vorgetragen zur Eröffnung der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz 1992, Eingang fand in die Karlsruher Entscheidung des Zweiten Senats, der sich 1993 über die nach der deutschen Einheit notwendig gewordene neue Fassung des Abtreibungsgesetzes gebeugt hatte.11 Wurde also Kardinal Lehmann zum heimlichen Ghostwriter des Verfassungsgerichts?

Für die Zeitgeschichtsschreibung sind diese Konstellationen deshalb ungemein spannend, weil sie dazu anregen, die Komplexität der Aushandlungsprozesse um die Abtreibungsgesetzgebung durch die Berücksichtigung von Verfassungsjustiz und Katholizismus neu zu gewichten. Schließlich handelt es sich hier um Vorgänge, die die bundesrepublikanische Gesellschaft zutiefst emotionalisierten und polarisierten, weil hier Fundamentalprozesse wie Säkularisierung und Emanzipation, Individualisierung und Autonomiebestreben mit einer an Traditionen sowie überdauernden Werten und Vorstellungen festhaltenden Fundamentalopposition kollidierten. Sowohl das Verfassungsgericht als auch die Kirche trugen (das ist alles durchaus komplex) einerseits zur Emotionalisierung, andererseits zur Pazifizierung (und damit auch zur Stabilisierung der Demokratie) durch das Suchen nach Kompromissen bei. Für die Geschichte des Wertewandels ist es bezeichnend, dass der allenthalben angenommene Umschwung von Pflicht- und Akzeptanz- hin zu Selbstbestimmungswerten sich im Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1975 eben nicht nachweisen ließ. Nicht nur in kirchlichen, sondern auch in den Texten des Verfassungsgerichts ist die Rede von »Pflicht«, »Opfer« und Akzeptanz.

Eines ist am Ende bei aller Komplexität unstrittig: dass der Impuls von Dieter Grimm, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, höchst fruchtbar war.

Notes

1 Thomas Darnstädt, Verschlusssache Karlsruhe. Die internen Akten des Bundesverfassungsgerichts, München 2018, 336.

2 Die Welt, 19.07.2008; demnach spielte die katholische Kirche bei der Verhinderung von Horst Dreier eine entscheidende Rolle.

3 Oliver Lepsius, Anselm Doering-Manteuffel, Die Richterpersönlichkeiten und ihre protestantische Sozialisation; in: Anselm Doering-Manteuffel, Bernd Greiner, Oliver Lepsius, Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 1985. Eine Veröffentlichung aus dem Arbeitskreis für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Tübingen 2015, 167–224.

4 Grimm führt an, dass bei der »Füllung der Spielräume«, die den Rechtsanwendern blieben, weniger die »politischen Bindungen« als vielmehr »professionelle Standards und Sozialisationen« eine Rolle spielten, vgl. Dieter Grimm, Die Historiker und die Verfassung. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes, München 2022, 341.

5 Bernd Rüthers, Hans Brox. Verfassungsrichter – Hochschullehrer – Autor – Mensch; in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 59 (N.F.) (2011) 521–533, 522. Vermutlich prägte diese katholische Sozialisation auch seinen Blick auf Ehe und Familie; 1954 wurde Brox jedenfalls Mitherausgeber der Zeitschrift »Ehe und Familie – Zeitschrift für das gesamte Familienrecht«, vgl. ebd., 523.

6 Ebd., 530.

7 Hans Brox, Das Recht auf Leben; in: Der Dom 18, 06.05.1973, 6–7.

8 Schreiben des Instituts für Staatskirchenrecht an den Justitiar Dr. Röder, Erzbischöfliches Ordinariat München, 16.10.1979; in: Archiv des Erzbistums München und Freising (AEM) Generalvikariat Sachakten 3186.

9 Döpfner, 08.11.1974, betr. Gebet angesichts der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betr. Gesetz zur Änderung des § 218; beigelegt: Fürbitten; in: AEM Generalvikariat Sachakten 3189, Mappe 2/2.

10 Vgl. Diözesanrat der Katholiken der Erzdiözese München und Freising, 20.07.1979, Ermin Brießmann, Vorsitzender des Diözesanrats der Katholiken im Erzbistum München und Freising an Erzbischof Josef Kardinal Ratzinger; in: AEM Generalvikariat Sachakten 3189, Mappe 1/2. Der Verein »Aktion für das Leben« hatte sich als Gegenbewegung zur Aktion 218 gebildet.

11 Zum Hintergrund vgl. Daniel Deckers, Der Kardinal. Karl Lehmann – Eine Biographie, München 2002, 323–325, sowie die persönlichen Annotationen des Biographen.