Wenn man diesem Buch eines nicht vorwerfen kann, dann einen Mangel an Haltung. Es versteht sich in erster Linie als Plädoyer für ein ökologisches und soziales Europa. Der Klimawandel sei eine Chance zur endgültigen Überwindung des Neoliberalismus und damit zur Herbeiführung eines nachhaltigen Paradigmenwechsels (im Sinne von Thomas Kuhn, 322ff.). Man müsse die Wirtschaft auf erneuerbare Energien umstellen. Dadurch entstünden viele neue Arbeitsplätze (emplois verts, 313ff.), allerdings auch Probleme für die Beschäftigten in den klassischen Industriesektoren. Der Wegfall von Arbeitsplätzen könne mit einer allgemeinen Reduzierung der Lebensarbeitszeit und der Lösung der Erwerbsbiographien von überkommenen Kategorien der Produktivität aufgefangen werden. Die zentrale Antwort auf die Frage der Beschäftigung sei, dass man weniger arbeiten solle, denn es komme nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität der Arbeit und des Lebens an (etwa 325). Hier sieht der Autor die Lösung für die Verwerfungen einer sich notwendig von der Kategorie des Wachstums verabschiedenden Wirtschaftspolitik. Solche Anti-Wachstums-Philosophien sind inzwischen weit verbreitet. Ein zentraler Punkt sind dabei stets die Kosten und sozialen Folgen der Transformation, zumal nicht alle arbeitenden Menschen die radikale Umstellung ihrer Lebensentwürfe als Fortschritt begrüßen werden. Der vorliegende Beitrag begnügt sich an dieser Stelle mit einem allgemeinen Verweis auf einen europäischen Unterstützungsfonds, der Übergangsprobleme zugunsten arbeitender Menschen abfedern soll (328).
Die Diskussion über solche Themen kann hier nicht vertieft werden. Stattdessen stellt sich die Frage nach der Relevanz des Buchs für die Rechtsgeschichte. Bemerkenswert ist, dass der Autor seinem Zukunftsszenario eine ausführliche Bestandsaufnahme der von der Ebene der EU ausgehenden Sozialpolitik voranstellt. Diese wiederum wird an große Entwicklungslinien angeknüpft, die bis zur Entstehung der Europäischen Gemeinschaften reichen. Insofern könnte das zwischen Politikwissenschaft und politischer Publizistik anzusiedelnde Werk auch von Interesse für die Geschichte des Arbeitsrechts der EU sein. Schnell wird jedoch erkennbar, dass sich die thematisierten Trajektorien europäischer Sozialpolitik und Arbeitsrechtsgestaltung im Rahmen einer telelogisch-linearen Geschichtserzählung bewegen. Ohne Ironie ist von »goldenen Zeitaltern« die Rede (54ff., 146ff., 194ff.), immer gekennzeichnet von einem »Mehr« an (europäischer) Sozialpolitik, der, ungeachtet |vieler Rückschläge, letztlich alles zustrebt, wobei die Frage, warum die seit langem eschatologisch herbeigesehnte Selbstzerstörung des Neoliberalismus trotz der Finanzkrise (!) wieder einmal ausgeblieben ist, mit einem nonchalanten Schulterzucken quittiert und die Beharrungskräfte der überkommenen Ordnung als »mystérieuses« bezeichnet werden (13).
Diesen Zugriff kann man sympathisch-anachronistisch finden oder methodisch unterkomplex. Jedenfalls spricht einiges dagegen, das Buch zu schnell zurück ins Regal zu stellen. Rechtshistorische Arbeiten in diesem noch wenig erschlossenen Gebiet können davon profitieren, weil es eine umfassende Auswertung von Literatur aus dem Bereich der European Studies in Bezug auf Arbeitsrecht sowie Sozial- und Beschäftigungspolitik bietet. Darüber hinaus sind die vorgenommenen historischen Periodisierungen von Interesse. Bei kritischer Relativierung der wertenden Passagen (der Autor sieht sich weniger als Analytiker denn als engagierter Intellektueller mit akademischem Anspruch), findet man gut begründete Darstellungen von Zäsuren der europäischen Arbeits- und Sozialpolitik, bei der Gesetzgebungsvorhaben auf verschiedenen Ebenen im ökonomischen Kontext und im Hinblick auf politische Entscheidungen in den Mitgliedstaaten reflektiert werden. Die Rechtsprechung des EuGH kommt ebenfalls als zentraler Faktor zur Sprache, wird jedoch nicht intensiv ausgewertet. Lesenswert sind die Ausführungen zu historischen Wendepunkten, etwa dem »Thatcherismus« und den Anfängen des europäischen Sozialdialogs (57ff., 61ff.). Dabei wandert der Blick immer wieder zwischen der europäischen und der mitgliedstaatlichen Ebene hin und her. Berücksichtigt werden darüber hinaus Auswirkungen ökonomischer Rahmenbedingungen auf die Arbeits- und Sozialpolitik, wobei der Weg zur Währungsunion eine zentrale Rolle spielt.
Neben der Herausarbeitung von Zäsuren ist für die Rechtsgeschichte der methodische Rahmen interessant, der für die Beobachtung einer »Europäisierung« des Arbeitsrechts entwickelt wird. Da es sich nicht um ein juristisches Werk handelt, darf man hier keine Synthese der Effekte europäischen Arbeitsrechts in den Mitgliedstaaten erwarten. Lesenswert ist dennoch ein Abschnitt über die analytischen Instrumente zur Bestimmung des Einflusses europäischer Politik auf die Mitgliedstaaten (224ff.). Hier werden auch verschiedene Rechtsformen (hard law, soft law) in den Blick genommen; direkter wird von indirektem Einfluss differenziert; und Ansätze zur Erkenntnis nicht erwünschter Effekte werden aufgezeigt (230ff.). Aufschlussreich ist auch die Beschreibung, wie die Union das Thema Antidiskriminierung für sich entdeckte und besetzte, wobei die bekannte Defrenne-Entscheidung ein wichtiger Impuls war (94ff.). Die EU erscheint hier als arbeitsrechtliche Innovationsplattform, die in von den Mitgliedstaaten vernachlässigte Gebiete vordringt. Wie in vielen Studien wird beim »gender mainstreaming« viel Aktivität auf europäischer Ebene mit wenig Effekten in den Mitgliedstaaten beobachtet (109f.), wobei die Entwicklungslinien wie stets bis in die Gegenwart gezogen werden. Beleuchtet werden darüber hinaus die Handlungsspielräume weiterer Akteure, nicht zuletzt der Sozialpartner, die als Faktoren europäischer Arbeitsrechtsentwicklung immer wieder hervorgehoben werden. Hier bietet das Buch einiges an Material zur kritischen Auseinandersetzung und als Anregung für die rechtshistorische Forschung.
* Philippe Pochet, A la recherche de l’Europe sociale, Paris: puf 2019, 376 p., ISBN 978-2-13-062616-9