Monumentale Enttäuschung*

[Monumental Disappointment]

Matthias Schwaibold Rechtsanwalt in Zürich m.schwaibold@rsplaw.ch

Dass Gerichtsgebäude Gegenstand rechtshistorischer Betrachtung sein können, ist nicht zu bezweifeln. Ausweislich des Literaturverzeichnisses betritt der Verfasser dieser Zürcher Dissertation wenig erschlossenes Neuland, wofür er Anerkennung verdient. Er stellt einleitend eine These auf und umschreibt die Ziele der Arbeit (Kapitel 1, 1–4); Kapitel 2 ist eine kurze Abhandlung zu »Recht und Ästhetik« (5–10). Kapitel 3 ist im Wesentlichen eine Stilkunde mit Schwerpunkt ab‍‍‍ der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (11–56). Das 4. Kapitel ist markanten Beispielen von Justizbauten, im Wesentlichen aus der Zeit von ca. 1860 bis 2016 gewidmet (57–124); im Mittelpunkt steht aber der Abschnitt über die Monumentalarchitektur der Justizpaläste bis 1914. Die Schlussbetrachtung (Kapitel 5, 125–129) hebt hervor, dass bisher vor allem die »einschüchternde« Wirkung von Justizbauten in der Literatur behandelt wurde, die man zumindest den jüngsten Gerichtsbauten nicht in gleicher Weise vorhalten kann. Rund 15 indessen durchgehend wenig befriedigende Bilder illustrieren die Ausführungen.

Gleich im Vorwort steht ein Satz, der die Fragwürdigkeit des ganzen Unterfangens beleuchtet: »Ob das Recht in unserer Gesellschaft seine Wirkung, seine Härte oder seine Milde, seine Schönheit und auch seine Würde auf Dauer entfaltet und entwickelt, hängt auch davon ab, welchen architektonischen Rahmen wir ihm zugestehen.« (V) Das ist zwar hübsch formuliert, läuft aber gleich in verschiedene verkehrte Richtungen: Denn das |»Recht« hat jedenfalls nach Auffassung des Rezensenten weder Schönheit noch Würde; und das Recht beschränkt sich schon gar nicht auf das, was innerhalb von Gerichtsgebäuden davon angewandt wird. Sowenig wie – ernsthaft überlegt – die Qualität der Rechtssetzung von der Bauweise des Parlamentsgebäudes oder der Ausstattung des Ratssaales abhängen kann, sowenig dürfte von den architektonischen Gegebenheiten einzelner Gerichtsgebäude eine Rückwirkung auf »das Recht« insgesamt ausgehen. Gerichtsgebäude sind in allererster Linie Arbeitsplätze und notwendigerweise »Bühnen« oder »Bühnenräume« für bestimmte, justizielle Geschehnisse (insbesondere Prozesse); das »Recht« ist mit solchen Gebäuden sicher weniger verbunden als jeder Rohstoff oder jede sonstige Materie mit einem Industriegebäude und nicht mehr als ein Bürokomplex mit den Inhalten derer, die darin irgendwelche Dienstleistungen erbringen.

Die einleitend (1) formulierte These, wonach sich aus der ästhetischen Gestaltung von Justizbauten Rückschlüsse auf die Wahrnehmung des Rechts in der Zeit ihrer Errichtung ziehen lassen, erscheint wenig überzeugend: Denn genauso müsste sich dann aus Spitalbauten, Kirchen oder Industriebauten etwas über die Wahrnehmung von Gesundheit, Gott oder Wertschöpfung ableiten lassen. Recht, Gesundheit und Wertschöpfung (Gott lassen wir jetzt auf der Seite) existieren aber unverändert vor und nach jeder Baute bzw. werden zeitgleich in unterschiedlich alten Bauten »verwaltet«. Und zwei Gebäude, zwischen deren Errichtung 30 Jahre liegen, können radikal unterschiedlich sein, ohne dass daraus abzuleiten wäre, dass sich in den 30 Jahren »das Recht« oder die Wahrnehmung desselben in gleichem Maße verändert hätten. Man nehme nur das »expressionistische« Amtsgericht Dorsten von 1929 (abgebildet: 43) und stelle es neben das als Beispiel für den Jugendstil angeführte Landgericht‍‍‍ I (Berlin-Mitte, 1896–1905, abgebildet: 39). Das BGB und die ZPO galten an beiden Orten doch in relativer Stabilität. Und im »Palais de Justice« in Straßburg (erbaut unter Wilhelm II. 1889–1893 und erwähnt: 35) galten hintereinander, ohne dass er einstürzte, der napoleonische Code Civil bis Ende 1899 und das neue BGB ab 1900, und ab 1919 traten nach und nach wieder die französischen Gesetze in Kraft. Die‍‍‍ unterstellte Wechselwirkung stimmt allenfalls dann, wenn man über das einzelne, konkrete Gebäude hinaus etwas sagen könnte; bloß ist die Einzelbaute in allererster Linie das Produkt ihres Architekten, und Architekten sind nicht wirklich dazu berufen, etwas über das Verhältnis ihres »Produkts« zum Recht als solchem verbindlich auszusagen. Dreidimensionales Erleben des juristischen Kontexts (1) findet indessen auch in jeder Anwaltskanzlei und jedem Verwaltungsgebäude statt, und damit hat sich nach Ansicht des Rezensenten die These von Anfang an als wenig tragfähig erledigt.

Denn wie der Verfasser aus einer zuvor ausführlichst herangezogenen Schrift des Württembergischen Beamten-Architekten Theodor von Landauer aus dem Jahre 1900 zitiert (72), sollen die Gerichtsgebäude bzw. Justizpaläste die Bedeutung der höheren Gerichte als staatlicher Institutionen hervorheben – und das hat mit dem »Recht« höchstens indirekt zu tun. Warum dann 120 Jahre später anstelle der »Institution« deren »Gegenstand«, eben das Recht, für die Deutung der architektonischen Botschaft maßgeblich sein soll, wäre zwar eine durchaus spannende Fragestellung, aber die Antwort darauf liefert uns jedenfalls die vorliegende Arbeit nicht. Nach Überzeugung des Rezensenten wird es auf die so formulierte Forschungsfrage auch gar keine sinnvolle Antwort geben können. Nicht umsonst lesen wir sodann (80), dass die Justizbauten des deutschen Kaiserreichs nach damaliger zeitgenössischer Auffassung der Repräsentation »des Staates« (ergo nicht: des Rechts) dienten. An anderer Stelle lesen wir: »Ein Bauwerk ist stets vor dem Hintergrund seiner jeweiligen Kultur- und Zeitgeschichte zu sehen« (11). Womit das »Recht« ausgeschlossen ist, und leider bleibt bis zum Schluss unerklärt, welchen Anteil das »Recht« auf eines der vorgestellten Gebäude denn tatsächlich hatte.

Neben diesen grundlegenden Einwänden ist dem Rezensenten noch Anderes, meist störend aufgefallen: Als praktizierender Anwalt bestreitet er nachdrücklich, dass sich (entgegen 12, 60f.) die Funktionen eines Gerichtsgebäudes aus den Prozessordnungen oder den Gerichtsverfassungsgesetzen ergeben, und auch aus den Zuständigkeiten an sich folgt nichts für die Architektur (entgegen 13). Inkohärent erscheint sodann die angebliche Beschränkung der Untersuchung auf die Schweiz, Deutschland und Frankreich: Denn die Ausführungen zu den Justizpalästen in Brüssel und Wien nehmen großen Raum ein, es werden sodann Gebäude aus Italien, Indien, Spanien und den USA erwähnt und teilweise sogar im Bild gezeigt, ja |»justizfremde« Bauwerke angeführt. Das ist nicht weiter tragisch, bleibt aber letztlich unerklärt, wie ebenfalls unerklärt bleibt, warum in einer Zürcher Dissertation nicht mehr schweizerische Gerichtsbauten behandelt werden: Es kommen zwar die beiden Bundesgerichtsgebäude, das alte und das neue, in Lausanne vor, desgleichen das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen und das Bundesstrafgericht in Bellinzona; aber die Frage wäre doch, ob diese vier Gebäude für irgendetwas bezüglich des schweizerischen Rechts stehen. Dazu liest man schlicht nichts. Auf S. 103 steht denn auch ein in dieser Hinsicht entscheidendes Zugeständnis über die Gerichtsbauten in Deutschland ab ca. 1960: Es handle sich um eine Vielzahl von Gerichtsgebäuden, die sich nicht von Verwaltungs-, Versicherungs- und Bürogebäuden unterschieden. Womit zugleich gesagt ist: mit dem »Recht« hat es offenbar alles nichts zu tun.

Gewiss treffen wir auf S. 86 auf einen interessanten Gedanken: Die ganz überwiegend in klassizistischem Stil gehaltenen »Justizpaläste« der 2.‍‍‍ Hälfte des 19. Jahrhunderts sollen sich von den‍‍‍ neugotischen Kirchen und Rathäusern unterscheiden; demgegenüber seien Amtsgerichte in Deutschland häufig neugotisch gewesen. Was letztlich angesichts desselben Rechts, das in allen diesen Gerichten zur Anwendung kam, doch die Eingangsthese eher zu erschüttern denn zu bestätigen vermag. Dass der Neubau des Bundesverfassungsgerichts auch 50 Jahre nach seiner Vollendung gelobt und als Paradebeispiel einer »demokratischen« Architektur hervorgehoben wird (48, 105ff.), ändert nichts daran, dass er die Gesamtwirkung der Schlossanlage doch ganz erheblich beeinträchtigt hat, wie der Rezensent als geborener Karlsruher nicht unerwähnt lassen kann. Gelungen ist die Passage zur »Bedeutungsarchitektur« (111f.), die von Gerichtsgebäuden nunmehr verlangt wird (ganz im Sinne des »demokratischen« Bauens, Autorität ausstrahlend, aber nicht autoritär wirkend). Auf S. 125 steht dann die Wiederholung der unbelegt gebliebenen These, wonach die Gebäude ein unterschiedliches Rechtsverständnis belegen würden. Aber in den dazu gelieferten Ausführungen (125ff.) ist nicht vom »Recht«, sondern vom »Staat« die Rede und vom »Dienstleistungsunternehmen Justiz«. Bezüglich der Gegenwartsarchitektur schreibt der Verfasser abschließend von den Schwierigkeiten einer »eindeutig lesbaren Symbolik« – das ist doch das Eingeständnis, dass es die gerade nicht gibt.

Die Bezeichnung der entsprechend großen Gebäude als »Justizpaläste«, letztlich nichts anderes als eine Eindeutschung des französischen »palais de justice«, ist nicht weiter zu beanstanden; altertümlich bzw. künstlich wirkt dagegen die vom Verfasser gepflegte Sprachregelung, von den Gebäuden »zu« Brüssel, »zu« Paris, »zu Nürnberg« etc. zu reden, statt das weniger prätentiöse »in« zu verwenden. Unpassend ist zudem, wenn aus dem (im Französischen männlichen) »Palais de Justice« auf Deutsch »das« Palais de Justice wird. Ebenso unbefriedigend ist (122f.), dass die Ende Dezember 2018 abgeschlossene und 2020 gedruckte Arbeit offenlässt, den tatsächlichen Zustand des Neubaus des Palais de Justice in Paris von Renzo Piano – dass er nämlich schon bezogen wurde – festzuhalten. Auf S. 99 findet sich schließlich ein abgründiger Druckfehler: Hitlers »Neue Reichskanzlei« wird als »Neue Rechtskanzlei« bezeichnet.

Man legt die Arbeit mit dem Gefühl zurück, dass einige gute Ansätze unter einer Vielzahl von wenig überzeugenden Überlegungen verschüttet wurden. Insbesondere bleibt damit eine »Schweizerische Gerichtsarchitektur« noch zu schreiben; ob sie tatsächlich zu Erkenntnissen »über« das schweizerische Recht führt, oder umgekehrt einen Einfluss des schweizerischen Rechts »auf« die Gerichtsgebäude in der Schweiz offenbaren würde, wagt der Rezensent indessen zu bezweifeln.

Notes

* Philipp von Schweinitz, Justizbauten als ästhetischer Ausdruck des Rechts. Eine rechtshistorische Untersuchung von Gerichtsbauten in Frankreich, Deutschland und in der Schweiz von der Gründerzeit bis zur Gegenwartsarchitektur (Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte, 73), Zürich: Schulthess 2020, XXIV, 129 S., ISBN 978-3-7255-8142-9