Der Jurist als solcher*

[The Jurist as such]

Hans-Peter Haferkamp Institut für Neuere Privatrechtgeschichte, Universität zu Köln hans-peter.haferkamp@uni-koeln.de

Welche Rolle spielten Juristen in der DDR-Diktatur? Diese Frage beschäftigt Inga Markovits schon ein langes Forscherinnenleben. Bereits 19691 lautete ihre Antwort: Die DDR-Juristen blieben Juristen.

Nun hat sich Markovits ein neues »Labor« (16) gesucht: Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin vor 1989. Und zugleich erweitert sie durch den vergleichenden Blick auf die NS-Zeit die These: Juristen blieben in allen deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts ganz normale Juristen.

Wie auch sonst in ihren neueren Büchern, sucht Markovits nicht die Nähe zur Forschung. Sie begnügt sich mit dem »Vertrauen meiner Leser in die Glaubwürdigkeit meiner Forschungen« (10), weist die verwendeten Archivalien konkret nicht nach, interessiert sich wenig für die Sekundärliteratur und komponiert aus ihren Aktenstudien ein gut lesbares Buch für das breite Publikum. Nur Spezi|alisten können daher beurteilen, was an diesem Buch neu ist.

Ihre »Protagonisten« (9 und durchgehend) sind die Dozenten an der HU und die sie umgebende Politik. Darüber, was konkret gelehrt wurde, wie geprüft wurde, wie das Studium ablief,2 was man seitens der HU in die DDR-Gesetzgebung einspeiste und welche Folgen dies für DDR-Bürger hatte, darüber erfährt man wenig.

Im Kern geht es um die internen politischen Auseinandersetzungen und die Konflikte mit der Partei. Es entsteht das Bild durchaus sympathischer Idealisten. Da sind die »young Turks« (155) der 1950er Jahre, denen Markovits auch persönlich oft begegnet ist: Von einem gerechten Sozialismus träumend, entwickeln Intellektuelle wie Klenner, Mollnau und Schöneburg »intelligent, belesen und politisch rabiat« (34) früh mutig eigene Ideen und werden dafür gemaßregelt. Auch Graefrath ist »Opfer der Babelsberger Konferenz« (76) und träumt vom freien sozialistischen Gespräch (157). Da ist der Strafrechtler Lekschas ein »fähiger und stolzer Mann« (175) und auch ein »Schlitzohr« (180), und der Wirtschaftsrechtler Heuer: »jung, energisch« (175). Über allen thront der »bürgerliche« Nathan, der sich viel erlauben kann, alles Menschen voll »intellektuelle(r) Neugier« (179). Wann immer es die politische Situation zulässt, findet Markovits »Strategien, mit denen die HUB-Juristen den Anspruch der Partei auf politischen Gehorsam unterlaufen konnten« (109). Klappt das nicht, zeigen sie sich »von der intellektuellen Enge an der Fakultät« bedrückt (175). Sie können nicht gut mit der Diktatur, sie sind eben »ideologieunbegabt« (200) – und zwar weil sie eben Juristen sind.

Was also sind das für Juristen, deren Loblied Markovits in diesem Buch singt?

Sie sind tief geprägt vom juristischen Handwerk. Juristisch denken, »erfordert Skepsis, Beweise, eine eindeutige Sprache, die Verhandelbarkeit von Positionen und Kompromissbereitschaft« (17). Juristen müssen selber denken, was sofort zum Vorwurf der Partei führt, sie würden dem Recht »eine selbständige, von der politischen Macht getrennte Eigengesetzlichkeit zubilligen« (69). Zwingt man sie dann in die offen politische Sphäre, fühlen sie sich nicht wohl. Politischer Kampf ist ihr Ding nicht: »Juristen lieben Ordnung und Disziplin« (40). Ihnen fehlt »das Talent zum Sprung ins Ungewisse« (100). Sie ziehen sich dann zurück in den »Elfenbeinturm der HU« (39), denn »meine Protagonisten verstanden sich nicht als Rebellen« (44). Im »Minenfeld der Macht« herrscht für Juristen »Unsicherheit und Beklommenheit« (72): »Bei Zweifeln fragt man lieber oben an« (73). Auf Druck reagiert man mit »Gehorsam« (73), passt seine Texte an, wird aber müde und initiativlos. Juristen wollen keinen Streit und können sich doch nicht einfach der Macht unterwerfen.

Und damit waren sie nicht viel anders als »Juristen überall« (98), also auch ihren westlichen Kollegen sehr ähnlich: »Die juristische Methode, die sich deduktiv vom Allgemeinen zum Besonderen bewegt; die Tendenz, ein Rechtsproblem in viele begriffliche Bausteine zu zerlegen; die Beziehungen dieser Bausteine zueinander innerhalb der Logik des Systems; die ›Grammatik‹ des Rechts, in der Juristen miteinander diskutieren, waren in Ost- und Westdeutschland weitgehend identisch.« (84) Mit Blick auf das geltende Recht »dachten die Humboldt-Juristen wie Juristen« (84). Konsequent suchten sie Zugang zu Westliteratur (88). »Wie ihre bürgerlichen Vorgänger an der Berliner Universität waren die HUB-Juristen Positivisten. Sie vertrauten dem geschriebenen Gesetz mehr als dem sozialistischen Richter. Sie liebten die begriffliche Genauigkeit und Vorhersehbarkeit des Rechts, sie liebten das Schritt-für-Schritt juristischer Argumentationen, sie liebten Regelmäßigkeit und Ordnung« (100). Mit bloßen politischen Programmsätzen kommen sie nicht klar, »sie sahen nicht wie richtige Gesetze aus. Sie hatten keine erkennbare juristische Struktur: keine Paragrafen, keine Definitionen, keine Wenn-dann-Bestimmungen« (94). Juristen wehren sich gegen »die politische Verwässerung ihrer Berufssprache« (96). Bei all dem war ihr Denken durch und durch konservativ-bewahrend, denn Juristen »fühlen sich in der bestehenden Rechtssystematik zu Hause und können sich keine andere vorstellen« (93). |Sie sind auch dann nicht in der Lage, politische Willkür zu verarbeiten, wenn sie politisch auf der Seite des Staates stehen, denn Ihr Handwerk ist »revisionistisch« (85). Darin liegt zugleich ihre politische Funktion: Auch wenn Juristen politisch den Staat begrüßen, zwingt ihr unentrinnbares Denken zur Willkürabwehr. Es geht nicht um Widerstand. Sie können nicht anders. Indem Juristen das tun, was sie als Juristen tun müssen, nämlich ihr Handwerk auf das Recht anwenden, begrenzen sie Willkür (210), verrechtlichen die Macht und gewinnen »dem Maßnahmenstaat DDR mehr und mehr Land« ab. Und schon allein dadurch bewegte sich die DDR »auf den Rechtsstaat« zu (211). Juristen haben also »zivilisierenden Einfluss«: »Eine Gesellschaft, in der Juristen etwas zählen, ist besser als eine Gesellschaft ohne sie« (210).

Mit einer solchen Riesenthese umzugehen, ist nicht ganz leicht. Konkret wird es ja kaum. Keine Fallstudien, keine vergleichenden Detailanalysen, kein Blick in die konkreten Ergebnisse. Nur zeitgenössische Bekenntnisse zum und Kritik am »Handwerk«.

Waren Technik und Politik wirklich so streng getrennt? Und wie soll man es sich vorstellen, dass eine Ausbildung, die ständig darauf befragt wird, ob sie »positivistisch« ist, im Ergebnis doch wieder »Positivisten« produziert? Einfach deswegen, weil man mit dem »täglichen Arbeitsmaterial des Juristen« (44), insbesondere mit den bürgerlichen Gesetzen, weiter arbeitete, wie Markovits suggeriert? Ging es nicht auch um neue Normtypen, neue Anwendungstechniken, neues »Handwerk«? Das Oberste Gericht der DDR wird damit zitiert, dass Volksrichter sich an den Wortlaut des BGB zu halten hätten (83). Zum Denken des OG passt das freilich schlecht, weil hier – wie etwa die nicht zitierte Arbeit von Knauf gezeigt hat3 – zeitgleich und ganz antipositivistisch die offene Nichtanwendung des BGB unter Berufung auf politökonomische Argumente praktiziert wurde.

Und natürlich liegt in der Behauptung, der »Positivismus« habe die Köpfe beherrscht, nicht nur eine fragwürdige »Ehrenrettung meiner Protagonisten« (210), sondern auch eine sehr alte Entlastungsstrategie: Genau so argumentierten nach 1945 die NS-Richter, nur umgekehrt: Der »Positivismus« habe sie wehrlos gemacht. Nun also: Glücklich ist, wer Jura studiert hat. Er muss keinen offenen Widerstand leisten und tut dem Land auch so gut? Seit über 50 Jahren wird dem entgegengehalten, dass »Positivismus« im Nationalsozialismus weder die Theorie noch die Praxis bestimmte und – wenn verwendet – kein Denkzwang, sondern eine juristische Strategie war.

Problematisch ist daher das Schlusskapitel. Hier wagt Markovits auf dünnem Forschungsstand eine »Spekulation« (20), indem sie ihre Ergebnisse für Professoren an der HU auf die Richter im Nationalsozialismus überträgt. Sie vermutet, auch nach 1933 würden sich (jenseits der politischen Sondergerichte) »die ordentlichen Richter des Systems (gerade so wie ihre DDR-Nachfolger Jahrzehnte später) vor allem als Juristen definiert haben. Sie wollten ihren Beruf ausüben. Auch ein Maurer, der begeisterter Parteigenosse war, wird unter Hitler eine Wasserwaage und ein Senkblei benutzt haben, um eine gerade Wand zu bauen. Das Werkzeug der Nazi-Richter bestand aus Instituten, Begriffen, Methoden und den geltenden Gesetzestexten. Ich nehme an, dass sie ihr juristisches Handwerkszeug so sorgfältig und effizient benutzten, wie ihr Terminkalender, ihre Ausbildung, ihr Talent und die politischen Umstände es erlaubten.« (216)

Zum Nachweis erzählt sie eine suggestive Geschichte. So habe die Zeitschrift Kritische Justiz 1969 versucht, die Veröffentlichung einer Studie von Grunsky zu verhindern, die festgestellt habe, dass noch 1939/40 die Justiz in 14 von 38 veröffentlichten Fällen ganz positivistisch zugunsten jüdischer Parteien entschieden hätte. Zum Nachweis, dass dies ein wohl ungewolltes Ergebnis sei, verweist sie darauf, dass die Untersuchungen der damaligen Gerichtspraxis alle »qualitativer und nicht quantitativer Art« seien (212). Markovits sieht sich als Aufklärerin aus den USA, die das sagen kann, was in Deutschland verboten ist. Aber ganz so einfach ist es nicht. In ihrer begrenzten Literaturkenntnis übersieht sie nicht nur, dass es inzwischen eine ganze Reihe statistischer Untersuchungen zur Justiz im NS gibt,4 sondern auch, |dass die Fragestellung Grunskys schon oft untersucht wurde, freilich mit deutlich differenzierenden Ergebnissen. Der Mythos vom Juristen, der nicht aus seiner Haut kann, bekam etwa in der Untersuchung von Schiller zum OLG Karlsruhe Risse. Hier waren die Richter besonders in der Anfangszeit massivem politischem Druck ausgesetzt. Es ergab sich ein äußerst uneinheitliches Bild. Manche Richter versuchten eine Entpolitisierung durch Dogmatik und flaggten das Urteil als höflich-unpolitische fachliche Arbeit aus. Andere schoben offensive politische Begründungen in den Vordergrund, um sich politisch abzusichern. Auf beide Wegen blieben jüdische Parteien in der‍‍‍ Regel erfolglos. In späteren Jahren, während der »Arisierung«, fand Schiller dagegen ebenfalls Fälle,‍‍‍ in denen die jüdischen Parteien obsiegten. Wenn hierbei »an die Stelle des deportierten Klägers bereits der badische Finanzpräsident getreten war«,5 um zu verhindern, dass ein Unternehmen unter ausländischen Einfluss geriet, wurde freilich deutlich, was auch Dreyer für das OLG Düsseldorf herausstellt: dass »für den Staat in Vermögensstreitigkeiten Interesse am Obsiegen der jüdischen Partei bestand. Denn einen Vermögenszuwachs auf jüdischer Seite konnte man durch gesetzliche Maßnahmen abschöpfen (etwa durch die sog. Reichsfluchtsteuer). Gewann die nichtjüdische Partei, so war deren Vermögensgewinn für den Staat verloren.«6 Diese Richter wussten genau, was sie politisch taten, auch dann, wenn sie die Rolle des »Juristen als solchen« einnahmen.

Notes

* Inga Markovits, Diener zweier Herren. DDR-Juristen zwischen Recht und Macht, Berlin: Christoph‍‍‍ Links Verlag 2020, 239 S., ISBN 978-3-96289-085-8

1 Inga Markovits, Sozialistisches und bürgerliches Zivilrechtsdenken in der DDR, Köln 1969.

2 Hierzu mit vielen Einzelheiten etwa das von Markovits nicht verwendete Buch von Malgorzata Liwinska, Die juristische Ausbildung in der DDR, Berlin 1997.

3 Verena Knauf, Die Zivilentscheidungen des Obersten Gerichts der DDR von 1950–1958, Berlin 2007.

4 Vgl. nur Philipp Hackländer, »Im Namen der Deutschen Volkes«, Berlin 2001; Jonas Küssner, Die familienrechtlichen Entscheidungen des Landgerichts Köln in der Zeit von 1933–1945, Münster 2013.

5 Christof Schiller, Das‍‍‍ Oberlandesgericht Karlsruhe im Dritten Reich, Berlin 1997, 355.

6 Martin Dreyer, Die zivilrechtliche Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Düsseldorf in der Nationalsozialistischen Zeit, Göttingen 2004, 334.