Oberste Richter im Spannungsfeld von Reichskammergericht, Kaiser und Reichsadel*

[Supreme Court Judges in the Triangle of Imperial Chamber Court, Emperor and Imperial Nobility]

Karl Härter Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main haerter@lhlt.mpg.de

Forschungen zum Justizpersonal und zu Richtern sind in der frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte eher rar. Zwar liegen einzelne Studien zu höchsten Gerichten wie dem Reichskammergericht vor, dessen Oberhaupt und höchster Richter – der kaiserliche Kammerrichter – war bislang allerdings noch nicht monographisch erforscht. Insofern schließt Maria von Loewenichs in Münster entstandene Dissertation eine Forschungslücke und entwickelt interessante Analyseperspektiven: Einerseits vertrat und repräsentierte der Kammerrichter den Kaiser als obersten Gerichtsherrn in einem der beiden Höchstgerichte des Reiches, das andererseits als reichsständisches Gericht konstruiert war und zunehmend an justizieller Autonomie gewann. Letztere war in der Reichskammergerichtsordnung reichsrechtlich verankert, stand aber im Spannungsfeld zur normativen Ordnung der traditionalen Adelsgesellschaft des Alten Reiches. In dieser bildete das Amt des Kammerrichters eine Ressource, um symbolisches Kapital für die Inhaber und ihre adligen Familien zu akkumulieren, reichspolitische Klientelnetzwerke zu stärken und den Einfluss des Kaisers auf die Reichsjustiz zu‍‍‍ sichern. Mit dem Kammerrichter als Kristallisationspunkt im »Prozess der Ausdifferenzierung und des Gewinns an Autonomie« (15) der Reichsjustiz untersucht die Fallstudie eine Thematik, die auch für eine global orientierte Rechtsgeschichte interessante Fragestellungen aufweist, wie die nach dem Funktionswandel des Richteramtes, der Autonomie imperialer Justizsysteme, der Einflussnahme von Herrschaftseliten auf höchste Gerichtsbarkeit und dem historischen Spannungsverhältnis zwischen Amt und Prestige bzw. Recht und sozialen Normen.

Wie in der Einleitung (Kap. I) knapp dargelegt, nutzt die Autorin verfassungs-, sozial- und kulturhistorische Ansätze, darunter auch die neueren Forschungen zu symbolischem und zeremoniellem Handeln sowie Versatzstücke der Systemtheorie (»Legitimation durch Verfahren«). Letzteres bleibt allerdings eher allgemeine Absichtserklärung: Systemtheorie wird kaum stringent als theoretisches Deutungsmuster eingesetzt und lässt sich bestenfalls bedingt auf das vormoderne Reichssystem und die traditionale Ständegesellschaft anwenden. Die theoretisch-konzeptionelle Fundierung und Diskussion von »justizieller Autonomie«, »Ausdifferenzierung« und »Ökonomie der Ständegesellschaft« hätte folglich fokussierter auf den zeitgenössischen Kontext von Reichsjustiz, Reichsadel und Reichsverfassung erfolgen können: Die »ständische Gesellschaft«, zu der die Kammerrichter als Mitglieder der Funktionselite »Reichspersonal« in Bezug gesetzt werden, meint letztlich den Reichsadel. Empirisch ist die Fallstudie dann auch auf die neun zwischen 1711 und 1806 am Reichskammergericht amtierenden Kammerrichter und ihr gesellschaftliches bzw. reichspolitisches Umfeld begrenzt. Diesen Zuschnitt begründet von Loewenich überzeugend mit der Quellenlage und der Wetzlarer Zeit des Gerichts (ab 1697): Im 18. Jahrhundert traten Ausdifferenzierung, Autonomiegewinne, Klientelwesen, kaiserliche Besetzungspraxis und damit einhergehende Konflikte am Reichskammergericht deutlicher zutage. Die hierfür relevanten, in unterschiedlichen Archiven überlieferten Quellen – darunter Gerichtsprotokolle, Urteilsbücher, Akten der Reichskanzlei, des Mainzer Erzkanzlers und der Visitationen des Reichskammergerichts sowie Nachlässe der Kammerrichter – hat von Loewenich umfassend herangezogen, gekonnt systematisch ausgewertet und daraus exemplarische Fallbeispiele und Konflikte behandelt.|

Die im Hinblick auf Ansatz und Fragestellungen stringente empirische Untersuchung erfolgt in zwei Teilen: Der erste verfassungsgeschichtliche rekonstruiert das Amt des Kammerrichters im Kontext von Reichsrecht, Justizverfassung und der reichspolitischen »Akteure« Kaiser und Reichsstände (Kapitel II); der zweite (Kapitel III) analysiert den sozialen-familiären Kontext der Kammerrichter, Einsatz und Gewinn von ökonomischem, sozialem und symbolischem Kapital und die Nutzung der Ressourcen des Richteramtes. Anhand von Auswahl und Amtseinsetzung des Kammerrichters, Vakanz des Richteramtes und Amtskontinuität während eines Interregnums sowie der Amtsausübung in der reichsgerichtlichen Praxis von Audienz, Plenum und Senat und den damit verbundenen prozessbezogenen Aufgaben und Kompetenzen des Kammerrichters erhellt der erste Teil das Spannungsfeld zwischen eigenständiger Rechtsprechungsinstanz des Reiches und kaiserlicher höchstrichterlicher Gewalt. Letztere repräsentierte der Kammerrichter in vielfältigen zeremonialen Praktiken, einhergehend mit zahlreichen Konflikten, die von Loewenich detailliert herausarbeitet. Im Ergebnis nutzte der Kaiser das Richteramt, um Einfluss der Reichsstände und Autonomiebestrebungen des Reichskammergerichts – politisch und symbolisch – zurückzudrängen. Im Kernbereich reichskammergerichtlicher Verfahren und Rechtsprechung blieb der kaiserliche Einfluss auf die Kammerrichter z.B. im Hinblick auf dessen umstrittenes votum decisivum bei Stimmengleichheit allerdings eng begrenzt. Autonomiestreben und Ausdifferenzierung des Höchstgerichts ließen sich bestenfalls bremsen.

Der zweite Teil richtet die Perspektive auf die aus dem mindermächtigen Reichsadel stammenden Amtsinhaber, beleuchtet im Rahmen von detaillierten Familienbiographien deren Karrieren und die Strategien der betreffenden Adelsfamilien und arbeitet den Einsatz von materiellen und sozialen Ressourcen, aber auch die mit dem Gewinn des Richteramtes verbundenen Zugewinne an symbolischem Kapital, sozialem Prestige und Aufstiegsmöglichkeiten im Reichssystem heraus. Über das Amt des Kammerrichters konnten sich die betreffenden Adelsfamilien in das kaiserliche Klientelsystem einbringen, und der Kaiser konnte dies wiederum nutzen, um Autorität und Einfluss zu stärken. Anhand gut gewählter Fallbeispiele zeigt die Autorin auch die damit verbundenen Zeremonial- und Rangkonflikte auf und verweist auf das Problem der juristischen Qualifikation der Kandidaten bzw. Amtsinhaber. Obwohl alle Jura studiert hatten, erkennt die Autorin Professionalisierungstendenzen erst bei dem 1797 ernannten (vorletzten) Amtsinhaber und misst juridischen Karrierefaktoren im Vergleich zu politisch-familiären eine bestenfalls sekundäre Bedeutung zu. Freilich übersieht sie, dass beispielsweise der 1763 ernannte Kammerrichter von Spaur mit einer juristischen Dissertation promoviert worden war.

Rechtliche Kontexte arbeitet von Loewenich dagegen prägnanter für die Nutzung der Ressourcen des Kammerrichteramtes heraus. Konkrete Amtsausübung und damit einhergehende Konflikte werden anhand klug gewählter Fallbeispiele ausgeleuchtet. Sie betreffen Verfahrensfragen wie die Ausschließung des Kammerrichters von Prozessen, das Problem der Befangenheit, die Einflussnahme zugunsten der eigenen Klientel durch die Einsetzung »gewogener« Senate, Assessoren und Referenten, die Beschleunigung von Verfahren sowie »Beziehungskorruption« und »Richterbestechung«. Zwar existierte eine rechtliche Grauzone, in der sich den Kammerrichtern Handlungsspielräume zugunsten ihrer Klientel eröffneten, die Autorin zeigt aber auch Normenkonkurrenz, Rollenkonflikte und Verrechtlichungstendenzen auf. Das Reichskammergericht versuchte, Assessoren zu suspendieren, die Kammerrichter mussten eine direkte Konfrontation mit dem Kaiser vermeiden, die ebenfalls zu einer Suspendierung führen konnte; offene Korruption und Bestechung wurden im Rahmen der Visitation des Reichskammergerichts verfolgt, und der Korruptionsvorwurf fand Eingang in den öffentlichen Diskurs. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelten auch die Kammerrichter eine stärkere Sensibilität gegenüber Korruption und Bestechung, und die Besetzung von Senaten und Beauftragung von Referenten mit bestimmten Fällen wurden dem Kammerrichter entzogen und neuen Regeln unterworfen. Insofern kann die Autorin zumindest Tendenzen der Professionalisierung und der Autonomisierung des Verfahrens konstatieren, zumal auch das Reichskammergericht als Institution versuchte, Einflussnahmen durch Kaiser und Klientele abzuwehren und Autonomie zu behaupten.

Ihre überzeugenden empirischen Ergebnisse hält die Autorin in zwei kurzen Zwischenresümees und einer abschließenden zweieinhalbseitigen Zusammenfassung fest, wobei sie im Deutungshorizont von Reichskammergericht, Kaiser und |Reichsadel verbleibt. Betont wird die Bedeutung des Richteramtes für das symbolische, soziale und politische Kapital mindermächtiger Adelsfamilien und die Nutzung als Ressource, um im Kontext von adligen und kaiserlichen Klientelnetzwerken Einfluss auf die Reichsjustiz zu nehmen. Die für die reichskammergerichtliche Praxis untersuchten Bereiche und Konflikte belegen das Spannungsverhältnis von justizieller Autonomie und Ausdifferenzierung des Rechts zu den Normen der vormodernen Adelsgesellschaft und einem traditionalen Verständnis des Richteramtes als (symbolisch-zeremonielle) Repräsentanz des Kaisers als dem höchsten Gerichtsherren. Zwischen kaiserlichen Interessen, Klientelnetzwerken und Ausübung des höchsten richterlichen Amtes blieb die Rolle des Kammerrichters im Reichskammergericht prekär und bedurfte beständiger Absicherung durch Zeremoniell und symbolisches Kapital. Eine tiefergehende Analyse, inwiefern sich diese für das Reichskammergericht und das Amt des Kammerrichters treffend beobachteten Konstellationen wandelten, gibt von Loewenich allerdings nicht. Weder erfolgt eine Diskussion und Einordnung der Ergebnisse in die Forschung noch nutzt die Autorin das vorhandene Potential eines Vergleichs mit Reichshofrat und Reichstag oder der allgemeinen Entwicklung von Richteramt und Justiz in der Frühen Neuzeit. Insofern beschränkt sich der Erkenntnisfortschritt der Arbeit auf valide‍‍‍ und auch rechtshistorisch interessante empirische Beobachtungen für Reichskammergericht und Kammerrichter, weitergehende und insbesondere‍‍‍ rechtshistorische Deutungs- und Vergleichsperspektiven bleiben freilich den Leserinnen und Lesern überlassen.

Notes

* Maria von Loewenich, Amt und Prestige. Die Kammerrichter in der ständischen Gesellschaft (1711–1806) (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 72), Köln: Böhlau 2019, 276 S., ISBN 978-3-412-22121-8