Leonardus Lessius war ein Theologe von europäischem Rang, dessen Werke bis ins 19. Jahrhundert immer wieder aufgelegt wurden. Im 16. Jahrhundert waren die Niederlande das reichste Gewerbegebiet Europas, aber hier tobten auch die Religionskriege und der Freiheitskampf der Niederlande, die sich zu einem großen Teil mit Lessius’ Lebensdaten (1554–1623) überschnitten. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen, hätte ein Handelsmann werden sollen, gelangte aber mit einem Stipendium an die Universität, schloss als Bester ab und trat, noch keine 18 Jahre alt, dem noch jungen Jesuitenorden bei. Die Seligsprechung hat man nicht für ihn erreicht, aber er galt zu Lebzeiten als das Orakel der Niederlande, weil er für deren spanischen Teil in wirtschaftlichen und politischen Fragen Rat gab, und er ist uns heute als einer der bedeutendsten Spätscholastiker durch die Fortführung der Rechtswissenschaft und des im Rahmen der Ethik entwickelten ökonomischen Wissens bekannt. 1999 erschien sein Hauptwerk De iustitia et iure caeterisque virtutibus cardinalibus von 1605 in der Reihe der Klassiker der Nationalökonomie mit einem Kommentarband.1 In dieser eng bestimmten Perspektive ist Lessius einer der Großen in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften zu einer Zeit, als diese noch nicht als eine selbstständige Disziplin verstanden wurden.
Das Buch von Wim Decock behandelt zu etwa zwei Dritteln Lessius’ Beitrag zum Wirtschaftsdenken, stellt diesen aber in den weiteren Zusammenhang seiner Theologie und möchte damit beweisen, dass die geistige Wendung, die nach Max Weber wesentlich zur Entstehung des modernen Kapitalismus beitrug, nicht allein jenen calvinistischen Sekten verdankt wird, auf die sich Max Weber in seiner Protestantischen Ethik hauptsächlich bezieht, sondern auch aus dem katholischen Wirtschaftsdenken in der Spätscholastik, das während der Gegenreformation hervorwächst. Wie Decock selbst hervorhebt, ist dies keine neue These. Er erinnert beispielsweise an Amintore Fanfani, der vor seiner politischen Karriere, die bis zur Präsidentschaft der Versammlung der Vereinten Nationen führen sollte, als Wirtschaftshistoriker ein ähnliches Projekt – unter Betonung der Gegensätze zwischen kapitalistischem Geist und von katholischen Vorstellungen eines christlichen Lebens geprägten Normen – verfolgt hatte.2 Ein anderer Strang der Argumentation führt in der Mitte des Buchs von den spätscholastischen Erwägungen, wann Monopole verderblich sind und Kartellabsprachen zu verurteilen und wann eine Privilegiengewährung doch sinnvoll sein kann, etwa zum Schutz des geistigen Eigentums von Büchern oder Erfindungen, zur Genese des Ordoliberalismus und der sozialen Marktwirtschaft. Da sind einerseits die päpstlichen Enzykliken, insbesondere Quadragesimo anno von Pius XI. (1931), die Eucken und Müller-Armack inspirierte (im Buch Kapitel VII), andererseits die Forschung über diesen Gegenstand zu nennen. Joseph (später Kardinal) Höffner promovierte während des Kriegs bei Walter Eucken über die Monopoldebatte der Reformationszeit.3 Er war dem Freiburger Kreis und dem Widerstand verbunden. Die dem Protestantismus zugehörigen Gründer der Sozialen Marktwirtschaft fühlten sich dem katholischen Wirtschaftsdenken verpflichtet. Fanfani in Italien arbeitete auch auf den Kompromiss zwischen Markt und gesellschaftlicher Bindung hin, der dort wäh|rend der Zeit des italienischen Wirtschaftswunders durch die Christdemokraten vertreten wurde.
Doch der Reihe nach. Auf dem Weg über die Biographie von Lessius und die Rezeptionsgeschichte führt Decock zur theologischen Quelle des Lessius’schen Wirtschaftsdenkens. In der Spannung zwischen Gnade und freiem Willen betonen die Jesuiten den letzteren: Der Mensch muss sein Heil verdienen. Die Prädestination kann zu Haltlosigkeit führen. Statt sich in das Schicksal zu ergeben, soll der Mensch durch gute Werke sich einen Schatz im Himmel schaffen. Schon auf Erden wird er nach seiner Arbeit und dem Verdienst beurteilt. Hier gelingt es Decock, die rechtlichen und ökonomischen Schriften des Lessius mit seinen theologischen zu einer überzeugenden Einheit zu verbinden, deren immanente und historische Sinnhaftigkeit einleuchtet und beeindruckt. Ein Beispiel: Mich hatte früher gewundert, dass Lessius4 die Unterschiede in den Soldzahlungen, die Offiziere und Soldaten verschiedener Ränge empfangen, nicht durch die distributive, sondern durch die commutative Gerechtigkeit erklärt. Es geht nicht um den Rang im Sinne des Standes, sondern um die Arbeit, die der Staat als juristische Person vom Soldaten als Individuum mietet – eine Formulierung, die durch Decocks Interpretation der säkularen und theologischen Lehre des Verdiensts bei Lessius an Tiefe gewinnt.
Das zweite Kapitel setzt sich mit Max Weber auseinander. Decock erweist sich hier als weit besserer Kenner als jene italienischen Autoren wie Fanfani, Nuccio, Todeschini, die konstatieren, dass der italienische Frühkapitalismus zeitlich der Reformation vorangeht, sodass sie Weber widerlegt zu haben glauben, wenn sie zeigen, dass sich im Spätmittelalter in den oberitalienischen Städten kapitalistische Verhältnisse entwickelten. Als ob sich Weber damit nicht selbst schon in seinen allerersten Publikationen befasst hätte! Weber geht es um den modernen Kapitalismus, kapitalistische Formen gab es schon in früheren Zeiten, insbesondere im Altertum, und die Aufgabe des Historikers besteht darin, zwischen diesen und dem modernen Kapitalismus zu differenzieren. Das gelingt Decock sehr schön und in knapper Form. Weber habe sich auf Schriften gestützt, welche die protestantische Ethik in konkrete Normen für das Alltagsleben umsetzen wie im bekannten Beispiel von Benjamin Franklin. Dem entspräche aber auch eine riesige Literatur im Katholizismus, die, Weber ergänzend, heranzuziehen wäre; und Lessius ist der Autor, der in einzigartiger Weise sein theologisches Konzept mit Konkretisierungen durch Wirtschaftstätigkeit verbindet, weil er sich auf Beobachtung und Beratung des Handels einlässt, insbesondere an der noch führenden Börse in Antwerpen.
Im dritten Kapitel gelangt Decock auf dem Weg über die juristischen zu den ökonomischen Kategorien. Er wird anhand der Wandlungen des Vertragsrechts erklärt. Einfache Übereinkünfte haben im römischen Recht vor Gericht keinen sicheren Bestand, es bedarf des Schwurs, der Bezeugung, des schriftlichen Vertrags, aber das frühe Christentum näherte die Extreme einander an. Im Auge Gottes hat das Wort die Kraft des Schwurs. Von den Christen wird eine höhere Verlässlichkeit gefordert. Decock verfolgt, wie das kanonische Recht ins Zivilrecht eindringt und schließlich über das Naturrecht eine Säkularisierung erfährt. In diesem Übergang nimmt Lessius eine eigene, genau die Stufen differenzierende Stellung ein.
Im vierten Kapitel geht es um Markt und Wucher. Der Autor zeigt sich hier wenig geneigt, die Geschichte der Wucherverbote ab ovo zu entwickeln und muss dann doch immer wieder auf die historische Logik zurückgreifen. Aus dem einfachen Appell, den Stammesgenossen oder christlichen Nächsten mit Darlehen zu unterstützen und dieses nicht dazu zu benutzen, ihm das Fell über die Ohren zu ziehen, wurde eine Zinslehre, in der man zunehmend genötigt war, den Realitäten nachzugeben und Zinsentschuldigungsgründe zuzulassen, woraus dann schließlich die Anfänge ökonomischer Theorie im Sinne einer Kausalerklärung wurden. Man kann dies im Kulturvergleich belegen. Der Islam wollte die Gefahr des Wuchers bannen, indem schon früh bestimmte institutionelle Formen einer Zinsnahme legalisiert wurden, die das islamischen Bankwesen heute ausbaut. Die chinesische Oberschicht sah auf die Kaufleute herab, hatte aber gegen Zinsnahme nichts einzuwenden, sodass sich dort vom Altertum bis ins 19. Jahrhundert ein vormodernes Kreditsystem entwickelte, das man als solches nicht in Frage stellte und dessen innere Logik man auch |nicht theoretisch zu erfassen suchte. Decock unternimmt keinen derartigen Vergleich. Er stellt vor allem fest, dass Lessius Wucher kaum mehr kennt, außer dem kleinen Dorfwucher, der durch Pfandleihhäuser bekämpft werden soll. All die vielfältigen Kreditbeziehungen, die sich im Handel, der Seefahrt, in der Industrie und an der Börse ergeben, werden auf die Wuchergefahr hin untersucht, aber schließlich doch exkulpiert, wobei für Lessius die rechtliche Form des Kreditvertrags eine zuweilen entscheidende Rolle spielt. Dabei wird teilweise modernen Begriffen vorgearbeitet. Beispielsweise wird der Kauf einer Schuldverschreibung zu einem Diskont nicht als Kreditgewährung interpretiert, sondern als Tausch eines weniger liquiden Titels gegen Geld, was universal eintauschbar ist, sodass ein Diskont sich von daher rechtfertigt. Das weist auf Liquiditätspräferenz voraus. Indessen spielt der Zeitverlauf doch eine Rolle. Die Antwort lautet: Nicht die Zeit schaffe den Gewinn, sondern die industria. Also ist lucrum cessans ein zulässiges Argument, und hinzu tritt das Risiko, periculum sortis. Schließlich gibt es noch die carentia pecuniae, die Bedürfnisse der Kassenhaltung; wer sich bei dieser einschränkt, um ein Darlehen zu geben, hat ein Recht auf Kompensation.
In weiteren Kapiteln werden Informationen und Spekulationen, Risiken, Versicherungen, aber auch der Verkauf fauler Kredite behandelt. Hier erfolgt eine Legitimation über den gerechten Preis, welcher allgemeiner Wertschätzung entspricht. Da sind die Grenzziehungen schwierig und bedürfen einer detaillierten Erörterung. Ist der gerechte Preis an den modernen Begriff einer an den Kosten orientierten Preistheorie für die lange Periode anzubinden oder an die Wertschätzung? Wie sind die ethischen Grenzen im Umgang mit privater Information zu ziehen? Müssen Mängel des Objekts beim Verkauf offenbart werden oder besondere Kenntnisse über die künftige Entwicklung der Lage im Handel?
Nach der Diskussion der Konkurrenzbeziehungen, auf die wir schon hingewiesen haben, kehrt Decock zum weiteren Rahmen zurück und zeigt nochmals, wie sich das Lessius’sche Wirtschaftsverständnis in seine Theologie einfügt. Hier werden insbesondere späte Schriften des Lessius einbezogen, die, soweit ich sehe, von der modernen ökonomischen Dogmengeschichte nicht beachtet worden sind. Suárez hatte getadelt, dass die enge Analogie von wirtschaftlicher Tätigkeit und Erkaufen des Seelenheils durch gute Werke an ein Wettrennen um den Preis des Heils erinnere. Da betonte Lessius, dass die Gnade doch immer notwendig bleibe und dass sie vom Menschen angenommen werden müsse. Lessius wendet sich aber auch in diesen Schriften immer wieder der Lebenspraxis zu. Er entwarf eine Diätetik, die ein asketisches Leben empfiehlt und sich an der Tugend der Mäßigung orientiert.
Das Buch ist gut geschrieben und wirkt trotz der oft abstrakten Gegenstände mit seinen vielen historischen Bezügen lebendig und charaktervoll. Im Einzelnen bleibt viel zu entdecken, natürlich auch manches hinzuzufügen.
* Wim Decock, Le marché du mérite: Penser le droit et l’économie avec Léonard Lessius, Paris: Zones sensibles 2019, 248 p., ISBN 978-2-930601-41-0
1 Leonardus Lessius, De iustitia et iure caeterisque virtutibus cardinalibus Libri IV, hg. v. Bertram Schefold, zus. mit: Vademecum zu einem Klassiker der spätscholastischen Wirtschaftsanalyse, Kommentarband zum Faksimile-Nachdruck der 1605 in Leuven erschienenen Erstausgabe, Düsseldorf 1999.
2 Bertram Schefold, Amintore Fanfani e le tesi di Max Weber, in: Alberto Cova und Claudio Besana (Hg.), Amintore Fanfani: formazione culturale, identità e responsabilità politica, Mailand 2014, 115–128.
3 Joseph Höffner, Wirtschaftsethik und Monopole im 15. und 16. Jahrhundert, Jena 1941.
4 Lessius, De iustitia et iure (wie Anm. 1), II, i, 1 (4).