Temporalität und Handlungsmacht: Zwei Anknüpfungen an Martti Koskenniemi

[Temporality and Agency: Two Connections to Koskenniemi]

Jörn Leonhard Historisches Seminar, Universität Freiburg joern.leonhard@geschichte.uni-freiburg.de

Das Leitmotiv von Martti Koskenniemis Buch bildet eine spezifische »longue durée«: die lange Dauer zwischen 1300 und 1870, in der sich der Zusammenhang zwischen »Legal Imagination and International Power« entwickelte und unterschiedliche Varianten hervorbrachte. Das Buch ist aber weit mehr als die dichte Beschreibung der Vorstellungswelt einzelner Autoren anhand einer Gipfelwanderung entlang von Kant, Vitoria oder Grotius. Den Kern der Interpretation bildet weniger eine konventionelle »history of legal ideas«, sondern ein spannender Blick auf die unterschiedlichen Sprachen aus Philosophie, Theologie, Politik, Römischem oder Naturrecht, und selbst aus Naturwissenschaften wie Biologie und Physik, aus denen Autoren zu unterschiedlichen Zeiten in Frankreich, Spanien, Italien, England, den Niederlanden und Deutschland schöpften, um ein Recht zwischen Staaten und damit langfristig einen Ordnungsrahmen internationaler Beziehungen zu imaginieren.

Für die zeit- wie raumspezifische Kombination dieser aus verschiedenen »languages« geschöpften Interpretamente nutzt der Autor den suggestiven Begriff der »bricolage«. Die beiden Wirkungsdimensionen von Macht, die dabei immer wieder in den Blick geraten, sind souveräne Herrschaft einerseits und Eigentum andererseits – mit beiden Begriffen sind zugleich die Sphären des öffentlichen und privaten Raums angesprochen, eine klassische Dichotomie der politischen Theoriebildung. Mit der Kernthese des Buches versucht der Autor, die hermetische Abschließung dieser Praxis- und Wirkungsräume zu durchbrechen. Das internationale Recht entsteht nicht als Normierung aus einem Guss, sondern als »bricolage«, als Überlappung und Interferenz von Vorstellungen von souveräner Herrschaft und Eigentum. Es gehe um »the imaginative use of both these two idioms to create structures of legal argument that are respectful of local tradition but also sensitive to novel circumstances and the needs of change« (958). Erst in der Kombination aus beiden Elementen lasse sich die Geschichte europäischer Herrschaft verstehen. Diese Geschichte präge »neither the power of sovereignty nor of property but always a particular, locally specific combination of the two. Sovereignty and property are the yin and yang of European power« (959).

Die nachfolgenden Bemerkungen, formuliert aus der Sicht eines Historikers mit besonderen Interessen am Verhältnis von Sprache und Geschichte, an Vergleich, Transfer und Verflechtung sowie Problemen der Temporalität, können angesichts der Fülle und Tiefe der Analysen in diesem Buch allenfalls symptomatisch und gleichsam pointilistisch ausfallen – darin sind sie notwendigerweise beckmesserisch. Anstatt völlig Neues einzuführen rekurrieren sie an mancher Stelle eher auf eine Reflexion aus dem Text und fragen nach der Kalibrierung einzelner Perspektiven. Vor diesem Hintergrund erkenne ich vor allem zwei produktive Anknüpfungspunkte für eine Diskussion.

Erstens suggerieren der Begriff der »bricolage« und der Verweis auf die unterschiedlichen »languages«, aus denen die Deutungsakteure dieses Buches schöpfen, vielleicht mehr, als sie wirklich analytisch erklären. Das führt direkt in das anregende hermeneutische Zentrum des Buches, nämlich das Verhältnis zwischen Sprache und Erfahrung. Zum einen durchzieht das Buch eine eigentümliche Spannung zwischen historischer und analytischer Sprache, denn Begriffe wie »Herrschaft«, »Souveränität« oder »Eigentum« sind selbst historisch, bilden aber zugleich Kernelemente des analytischen Vokabulars des Forschenden. Diese Spannung ist nicht aufzulösen, weil es keine räumlich oder zeitlich übergreifende Metasprache gibt. Aber man muss diese Differenz zwischen analytischem Gebrauch und historischen Bedeutungsschichten doch immer im Blick behalten.

Zum anderen werden durch den Begriff der »bricolage« unterschiedliche Bedeutungsangebote tendenziell und vorschnell synchronisiert. Demgegenüber müsste man für den Zusammenhang von »legal imagination« und »international power« verschiedene Ebenen von Temporalität berücksichtigen, die hier nur anzudeuten sind. Das ist zunächst die Frage nach einer spezifischen »Ungleichzeitigkeit«. Sie betrifft nicht nur die Trennung zwischen der »ex eventu«- und der »ex post«-|Perspektive, also zwischen der bereits angesprochenen historischen und der analytischen Verwendung eines Begriffs. Vor allem enthalten die von Koskenniemi angesprochenen »languages« ganz unterschiedliche Eigenzeiten von theologischen, politischen oder rechtlichen Motiven oder Topoi, mithin eigene historische Rhythmen und Konjunkturen. Daraus ergibt sich, dass es dogmatische Epocheneinteilungen mit einem vermeintlich klar definierten »vorher«/»nachher« nicht gibt, sondern Überlappungen und Überhänge. Mit einer solchen Perspektive kann man auch der Gefahr vorbeugen, aus der retrospektiven Logik eine Meistererzählung der Genese des internationalen Rechts zu schreiben.

Man kann die Frage nach den Temporalstrukturen noch in einer anderen Weise vertiefen. Mit dem Begriff der »Präfiguration« hat Hans Blumenberg die in der Rhetorik wichtige Bezugnahme auf ein vergangenes Geschehen im Sinne einer Vorausdeutung akzentuiert: Was also in der Vergangenheit angekündigt wird, wird in der Gegenwart aktualisiert (oder wird, falls nicht eingetreten, umso mehr in der Zukunft erwartet). Ein klassisches Beispiel sind Ereignisse, die im Alten Testament geschildert und als historische Ankündigungen von Taten verstanden werden, die sich in der Gegenwart oder nahen Zukunft tatsächlich ereignen. Auch für das internationale Recht müsste man solche Prozesse untersuchen, zumal die in dem Buch behandelte lange Dauer ja eine Vielzahl von diachronen Rekursen und Anverwandlungen enthält. In jedem Fall entsteht durch die Präfiguration eine kontinuierliche Bedeutungskette mit großer Suggestionswirkung.

Schließlich erscheint die Sphäre des Rechts als ein besonders aufschlussreiches Beispiel von Wiederholungsstrukturen, wie sie Reinhart Koselleck untersucht hat. Historische Veränderungen sind weder auf bloße Wiederholung noch ständige Innovation reduzierbar; in ihnen greifen vielmehr zyklische und lineare Elemente ineinander, oder anders gesagt: Das Recht und eben auch die »legal imagination« sind ohne das Zusammenspiel von Wiederholung und Einmaligkeit nicht zu erfassen. Nur durch iterative und repetitive Strukturen, durch Rekurrenzprozesse, können Veränderungen in das Recht eingeschrieben werden – man denke nur an das dynamische Verhältnis zwischen dem Innen und Außen eines Staates, an die Permeabilität von Gesellschaft und Staat vor dem Hintergrund neuartiger politischer und sozialer Erwartungshorizonte. Auch Vorstellungen vom Recht zwischen Staaten sollten in diesem Sinne als Wiederholungsstruktur untersucht werden. Sie setzen eine iterative Anwendung von Gerechtigkeit, Rechtssicherheit oder Vertrauen in Institutionen oder Prozessen voraus und reflektieren die Spannung zwischen ad hoc-Einzelfalllösungen und Wiederholungsgeboten etwa im Blick auf überzeitliche Normen. Für das Verständnis von internationalem Recht in diesem Sinne ist entscheidend, dass auch Wiederholungsstrukturen nicht statisch, sondern historischem Wandel unterworfen sind.

Zweitens ist die von Koskenniemi beobachtete Novität, dass Vorstellungen von souveräner Herrschaft und Eigentum nicht dichotomisch zu betrachten sind, sondern sich immer wieder neu miteinander verknüpften, jedenfalls für Globalhistoriker und vor allem für solche, die sich mit Empires, mit der Dynamik von realen und imaginierten Zentren und Peripherien im langen 19. Jahrhundert beschäftigen und überhaupt mit der Komplexität von kolonialen Konstellationen, keine besondere Überraschung. Damit verbinden sich aber Fragen an die Perspektivität des Buches und seine Erklärungsreichweite. Der Autor weiß sehr genau um das Problem, das aus einer Weltsicht aus den europäischen Metropolen hervorgeht. Diese Perspektive auf Kolonialgesellschaften entspricht gleichsam einer Weltgeschichte Europas, aber sie rückt die Handlungsmacht von Akteuren in der »situation coloniale« zuweilen auch zu sehr in den Hintergrund. Doch gerade die Sphäre des Rechts und der Versuch, europäische Konnotationen von Herrschaft, Macht, Eigentum oder auch Arbeit auf Kolonialgesellschaften zu übertragen, provozierte immer wieder Konflikte, zwang europäische Kolonialakteure vor Ort zu vielfältigen Kompromissen und ließ für Menschen in Afrika oder Asien eigene Handlungsmacht entstehen. »Agency« war jedenfalls eine ambivalente Größe, die Vorstellungen eines europäischen Zentrums und einer kolonialen Peripherie unterlief.