Editorial

Ist Rechtsgeschichte – Legal History im 18. Erscheinungsjahr erwachsen und, man wagt es kaum auszusprechen, brav geworden? Angesichts des diesjährigen Inhaltsverzeichnisses möchte es fast so scheinen. Die Aufsätze im Recherche-Teil behandeln Themen, die die Disziplin hierzulande seit Jahrzehnten bewegen: Meinungsverschiedenheiten zwischen Germanisten und Romanisten; spätantike, fränkische und kanonistische Rechtsliteratur; Rechtsurkunden in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Stadtrechten; das österreichische öffentliche Recht des 18.Jahrhunderts; Theorie des Strafrechts. Die Forschungssektionen, Foci, die sich anschließen, befassen sich mit dem Bank- und Wirtschaftsrecht seit der frühen Neuzeit sowie dem Werk eines der prominentesten deutschen Rechtshistoriker des 20. Jahrhunderts, Knut Wolfgang Nörr.

Unsere Leserinnen und Leser müssen allerdings nicht befürchten, hier Altbekanntes vorzufinden. Im Gegenteil: Tamar Herzog zum Beispiel situiert den Streit der Germanisten und Romanisten im Kontext der spanischen Rechtshistoriographie, der außerhalb der iberischen Halbinsel kaum bekannt ist. Christoph Meyer rehabilitiert die Literaturgattung der Epitome, die in der bisherigen Forschung ein Randdasein fristet. Thomas Pierson untersucht mit den »Dienstbriefen« der Frankfurter Stadtbediensteten eine bisher kaum beachtete Quellengattung. Martin Schennach leistet einen Beitrag nicht nur zur österreichischen, sondern zur europäischen Verfassungsgeschichte und führt uns nebenbei ein Beispiel für Rechtspluralismus avant la lettre vor. Klaus Günther schließlich beleuchtet die seit der Aufklärung bestehende eigentümliche Spannung zwischen Strafrecht und Demokratieprinzip und schlägt damit gleichzeitig eine Brücke von der Rechtsgeschichte zur Rechtstheorie – durchaus zukunftsweisend für das Frankfurter Max-Planck-Institut, an dem kurz vor Erscheinen dieser Ausgabe eine neue Abteilung mit dem Schwerpunkt Theorie des Rechts eingerichtet wurde.

Ähnlich innovativ ist der Fokus zu Finanzmärkten und Regulierung, den Carsten Fischer und Andreas Thier verantworten. Die Geschichte dieser Märkte seit der frühen Neuzeit ist ein gutes Beispiel dafür, wie staatliche Hoheitsmacht und mit ihr das Recht immer wieder an Grenzen stoßen. Rechtsgeschichte ist hier gewissermaßen die Geschichte des Scheiterns von Recht. Diese Sektion inspirierte die Redaktion auch zur diesjährigen Bildstrecke, die aus Exponaten der numismatischen Sammlung der Deutschen Bundesbank zusammengestellt wurde, in die Juliane Voß-Wiegand am Ende des Bandes in einer Marginalie einführt.

Der zweite, unter Federführung von Jan Schröder entstandene Fokus widmet sich einem der originellsten und produktivsten Vertreter unserer Zunft: Knut Wolfgang Nörr (1935–2018) prägte wie kaum ein anderer die Erforschung der Geschichte des Kirchen-, Prozess- und Wirtschaftsrechts in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Bei der Lektüre von Schröders Einleitung fühlt sich der Verfasser dieses Editorials unwillkürlich an die englische Verfassungsgeschichte erinnert, die bekanntlich voll ist von Personen, die als the best Prime Minister we never had galten. Nörr war vielleicht der beste Max-Planck-Direktor, den das Frankfurter Institut nie hatte. Beruhigend nur, dass seine Entscheidung, die Nachfolge von Helmut Coing nicht anzutreten, laut Schröder nicht zuletzt an Nörrs Präferenz für »die kurzen Wege« lag, die Frankfurt im Gegensatz zu Tübingen nicht bieten konnte. Das Institut gedenkt seiner auch weiterhin in großer Dankbarkeit, war er ihm doch lange Jahre als Auswärtiges Wissenschaftliches Mitglied verbunden.

Wie üblich enthält auch der Kritik-Teil, mit seiner überwältigenden Fülle von Rezensionen aus allen Epochen und Regionen der Rechtsgeschichte, viel Neues und Interessantes. Hier kommen alle am Institut vorhandenen Forschungsansätze zur Geltung, zu Papier gebracht von der Orientierungsstipendiatin bis hin zum Direktor Emeritus, ergänzt durch Besprechungen von Ehemaligen, Gästen und anderen Freunden des Instituts. In diesem Abschnitt werden übrigens auch letzte Zweifel zerstreut, dass Rg sich nur »braven« Themen widmen könnte. Welche andere rechtshistorische Zeitschrift kann schon von sich behaupten, in ihr wären der Frontmann der »Toten Hosen«, Campino, und seine Verbindung zum Preußischen Oberverwaltungsgericht behandelt worden?

In diesem Jahr erfolgten die Fertigstellung vieler Beiträge und die redaktionelle Bearbeitung fast ausschließlich im Corona-bedingten Home Office. Dafür, dass wir trotz der allseits erschwerten Umstände wieder termingerecht eine vollwertige Ausgabe in Händen halten, danke ich, auch im Namen meines Mitherausgebers Thomas Duve, allen an der Entstehung Beteiligten, den Autorinnen, Autoren und den Mitgliedern unserer Redaktion. Ein besonderer Dank gilt Juliane Voß-Wiegand und Hendrik Mäkeler von der Abteilung Numismatik und Geldgeschichte der Deutschen Bundesbank für ihre Unterstützung bei der Zusammenstellung der Bildstrecke.

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