Editorial

»In denen Provintzien, wo mehr als einerley Recht und theils das Römische, theils das Sächsische, teils ein Jus consuetudinarium gilt, wollen Wir an richtige Verfassungen arbeiten lassen, damit alle aus einem ungewissen Recht entspringende Fehler und Gebrechen abgeschaffet werden […]«, so verfügte Friedrich Wilhelm I. im Juni 1713 in der Allgemeinen Ordnung die Verbesserung des Justizwesens betreffend. Es müsse den »abusui praejudiciorum« entgegengewirkt werden, das »arbitrium Judicis« dürfe nicht zu weit und über die »behörige Schrancken« extendiret werden. Wenige Monate nach seiner Krönung nahm er damit die allgemeine Justizschelte auf. Von einer »schweren Bürde« für das Volk, in »unüberwindlicher Unkenntnis des Rechts, das doch gerade die Richtschnur des bürgerlichen Lebens aller sein muss, gefesselt zu sein und durch dessen dehnbare Zweideutigkeit bald zu einem Spielball zu werden, bald seiner Habe entblößt zu werden«, hatte schon siebzig Jahre zuvor, 1643, Hermann Conring in seinem De origine iuris germanici geschrieben – für manche das ›Gründungsbuch‹ der Rechtsgeschichtswissenschaft. Man bemühte sich in diesen Jahrzehnten, manche Fesseln der Vergangenheit abzustreifen, den Institutionen die »Verkleidung« des römischen Rechts abzureißen – so Christian Thomasius Anfang des 18. Jahrhunderts in einer bekannten Wendung zur lex Aquilia – und diese als Produkt der reinen ratio zu präsentieren. Es ging um einen usus modernus oder hodiernus, den ›heutigen‹ Gebrauch des Rechts, um Beschleunigung und Berechenbarkeit der Verfahren. Die weitere Geschichte der Justiz- und Verfassungsreformen in Preußen ist gut bekannt. Sie führte zur Justizreform und mündete in der Inkraftsetzung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794, der als »janusköpfig« bezeichneten Kodifikation. Denn das ALR war ein Dokument aufklärerisch-absolutistischen Geistes, der ›Selbstdisziplinierung der Monarchie‹ – doch zugleich verfestigte es eine historisch überlebte Sozialstruktur. Nicht für alle das Gleiche, sondern Jedem das Seine: So lautete noch immer das oberste Gerechtigkeitsprinzip. Es ist dieser Versuch einer Ordnung durch Ungleichheit, an der auch das Scheitern dieser – wie Toqueville später formulieren würde – »veritablen Verfassung« festgemacht wird.

Prinzipiengeleitete Vereinheitlichung des Rechts, Kampf gegen die territoriale Rechtszersplitterung, Verdrängung von Gewohnheit und ständischer Regelungsautonomie, Monopolisierung der Rechtserzeugung und Aufstieg des (staatlichen) Gesetzes, Kodifikation, Zentralisierung der Justiz, Beschleunigung der angeblich endlosen Verfahren, Gleichheit als Gerechtigkeitsprinzip, Transparenz, Berechenbarkeit, Rationalität des Rechts, Bindung an und Emanzipation von der Vergangenheit, Diskurse um Zeitlichkeit und Reformbedarf – dies sind einige der großen Linien, entlang derer die Rechtsgeschichte nach der Sattelzeit, also des 19. und weiter Teile des 20. Jahrhunderts, aus guten Gründen erzählt worden ist. In den letzten Jahrzehnten sind freilich auch Fragen danach drängender geworden, was jenseits dieser Linien liegt: nach einer sich auch im 19. und 20. Jahrhundert weiterhin reproduzierenden Rechtsvielfalt; nach der Bedeutung nicht-staatlichen Rechts; nach fortdauernder und sich intensivierender richterlicher Rechtssetzung; nach der Entstaatlichung von Recht und Justiz; nach der Herausbildung von Mehrebenensystemen und transnationalen Rechtsregimen; nach dem Nicht-Rationalen im Recht. Von rechtstheoretischer oder normenwissenschaftlicher Seite interessiert immer mehr, welche verborgenen Faktoren die Rechtserzeugung – also auch das arbitrium iudicis – beeinflussen. Wie steht es um solche Voraussetzungen juridischer Praxis, die in dem Selbstbild des europäischen Rechts als Frucht eines umfassenden Rationalisierungsprozesses und der Rechtsinterpretation als sterilem Akt der Subsumtion oder in einem bloß ›Theorie‹ und ›Praxis‹, aber nicht Praxeologie untersuchenden Zugriff auf die Rechtsgeschichte weitgehend unsichtbar bleiben? Was bedeutet implizites Wissen, welche Rolle spielen ästhetische Wahrnehmungen, Emotionen, historische Zeitvorstellungen bei der Rechtserzeugung? Was bedeutet deren Berücksichtigung für unsere Vorstellung von Recht? – Das sind nur einige der Fragen, vor deren Hintergrund die Beiträge in diesem Heft der Rechtsgeschichte – Legal History zu lesen sind.

Im Themenfokus ›Multinormativität‹ widmen sich elf überwiegend aus der deutschsprachigen community stammende Beiträge gerade nicht der | langsamen Herausbildung von Staatlichkeit und ihren juridischen Handlungsformen als Prozess einer zunehmenden Absorption von Funktionen und Rechtsquellen – sondern fragen nach Konstellationen und Modalitäten von Rechtsvielfalt, nach Interaktionskonstellationen in und normativen Ebenen hinter der juridischen Praxis. Das Panorama reicht vom ›collaborative legal pluralism‹ geistlicher, weltlicher und moraltheologischer Normativität im 16. Jahrhundert über die Differentienliteratur und das ius commune des 17. und 18. Jahrhunderts zu gelehrten Praktiken und der Normierung guter gelehrter Praxis im gleichen Zeitraum. Ehrengerichte des 19. und 20. Jahrhunderts werden als Trefforte unterschiedlicher normativer Rationalitäten präsentiert, die endogene Pluralisierung der Normenordnung durch eine konsequentere Demokratisierung der Normerzeugung in der Gegenwart herausgearbeitet, die normative Aufladung transnationalen Rechts seit den 70er Jahren am Beispiel der OECD Guidelines for Multinational Enterprises und ihre Interaktion mit staatlichem nationalem oder zwischenstaatlichem Recht demonstriert. Zwei Autoren beschäftigen sich mit der Symbiose legaler und illegaler normativer Ordnungen im Bereich der Sicherheitsgewährleistung, ein Beitrag führt in die Rechtsästhetik und analysiert die Koppelung von Werturteilen ästhetischer und moralischer Art, blickt also weit unter die Oberfläche normativen Denkens und Handelns. Zwei Aufsätze widmen sich der Beobachtung des Sprechens über Rechtsvielfalt.

Dass dieser ›Fokus‹ unter der Überschrift ›Multinormativität‹ steht, nimmt Bezug auf einen der vier Forschungsschwerpunkte am Max-Planck-Institut, der – nach ›Raum‹ und ›Translation‹ in Rg 23 (2015) und Rg 24 (2016) – in diesem Heft im Mittelpunkt steht. Was damit gemeint ist und worin sich diese ›Multinormativität‹ vom ›Rechtspluralismus‹ unterscheidet, wird in dem einführenden Beitrag zum Fokus näher ausgeführt. Auch in den Rezensionen liegt ein besonderer Schwerpunkt auf solchen Arbeiten, die sich historischen Formen von Vielfalt des Normativen annehmen. Wir sind den Autorinnen und Autoren sehr dankbar, dass sie uns dabei geholfen haben, Rezensionen in so vielen Fällen wie möglich in einer anderen Sprache zu publizieren als in der, in der das zu rezensierende Buch veröffentlicht wurde. Mehrsprachigkeit ist, das macht auch dieses im Vergleich zum letzten, fast komplett englischsprachigen Band 24 sehr deutschsprachige Heft deutlich, für uns Realität und Prinzip.

Der zweite thematische Fokus steht manchem, was im Fokus ›Multinormativität‹ angesprochen wird, sehr nahe, hat aber kein spezifisch normwissenschaftliches Interesse und ist aus einem Forschungsvorhaben am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Berlin) hervorgegangen. Dort widmet man sich der Geschichte von Recht und Emotionen, einer Perspektive, die in den letzten Jahren international gesteigerte Aufmerksamkeit erregt hat. Auch in der nicht spezifisch historisch ausgerichteten Law and Emotion Scholarship geht es jedenfalls manchen um die Dekonstruktion von bestimmten Leiterzählungen vom Recht als objektiver, rationaler, wissenschaftlicher Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse; auch in ihr werden zum Teil normative Forderungen erhoben. Vor allem: Die zunehmende Berücksichtigung von Emotionen, von Empathie, von besonderen Lebenslagen übt zentrifugale Kräfte auf das auf dem Prinzip der Einheit beruhende Rechtssystem aus. Deswegen und angesichts des auch im ersten Fokus deutlich werdenden Versuchs, die Voraussetzungen des juridischen Denkens, Handelns und Entscheidens sichtbar zu machen, sind uns diese Studien zur Geschichte von Emotion und Recht besonders willkommen. Die Koordinatorin des Fokus, Daphne Rozenblatt, führt in ihrem einleitenden Beitrag in die Thematik ein. Ihr verdanken wir auch die Bildstrecke, von einer ›Introductory Note on Images of Legal Feeling‹ eingeleitet. Vielleicht sind die Bilder zu den Texten ein Fall der ›Synästhesie‹, wie sie im Fokus ›Multinormativität‹ beschrieben wird.

Im Teil ›Recherche‹ drucken wir wieder einen ausführlichen Beitrag zur Zeitgeschichte der Rechtswissenschaft in der Berliner Republik ab. Jan Thiessen hat sich für das Institutsprojekt ›Rechtswissenschaft in der Berliner Republik‹, dessen Ergebnisse Anfang 2018 publiziert werden, so ausführlich mit der Geschichte des Handels- und Gesellschaftsrechts – in der Sprache der Berliner Republik: des Unternehmensrechts – beschäftigt, dass wir uns entschlossen haben, in der Rg die Langfassung zu veröffentlichen, nochmals erweitert um die Publikation weiteren Materials in der Research Paper Series des MPI auf SSRN. In seinem Beitrag führt Thiessen uns tief in die Werkstätten und Besprechungsräume der Fabrikation des Unternehmensrechts. Er zeichnet die Rechtsänderungen, vor allem aber die Interaktionen der verschiedenen an der Rechtserzeugung beteiligten | Institutionen, Interessengruppen und Personen nach. Er zeigt den Bedeutungsgewinn von Normenordnungen wie Corporate Governance Codices, die Tendenz zur Entstaatlichung und den gerade dadurch entstehenden Regulierungsschub, nicht zuletzt aber das Selbstverständnis der Akteure, die sich als potentielle Gutachter, wissenschaftliche Autoritäten, legal designer oder zukünftige Honorarprofessoren positionieren. Ein Stück radikaler Zeitgeschichte.

Am Anfang dieses Hefts der Rechtsgeschichte steht schließlich die große Frage nach Recht und Zeit und Rechtsgeschichte. Andreas Thier stellt sich ihr. Er fasst konzise die langanhaltenden Debatten über Zeit als grundlegende Sinndimension sozialen Handelns zusammen, die zu dem Befund einer historischen Vielfalt von Zeitvorstellungen und zu einer intensiven historiographischen Reflexion über das eigene Tun geführt haben – die ›Zeitschichten‹ von Koselleck markieren auch für ihn einen wichtigen Punkt auf diesem Weg. Für die Rechtsgeschichtswissenschaft müssen die historischen Zeitregime von besonderem Interesse sein, ist Zeit doch eine konstitutive Dimension von Recht und das Recht selbst Medium von Zeitvorstellungen, mit allem, was das mit sich bringt. Thier führt dies anhand einiger Funktionen von Zeit und Zeitlichkeit als epistemischem Element im Recht vor, im Blick auf die Dialektik von Unveränderlichkeit und Anpassung, in seiner identitätsstiftenden Funktion für Rechtsordnungen, als Herrschaftsdimension und in der Modalität der Beschleunigung als Begründungselement für Komplexitätsreduktion. Mit ausgewählten präzisen Schlaglichtern auf rechtshistorische Klassiker wie die potestas legislatoria, den Amtsbegriff, Ewigkeitsklausel, Wissensordnungssysteme, Naturrecht, Verjährung und Fiktion, damnatio memoriae oder periculum und periculum in mora veranschaulicht er die vielfältigen Verwicklungen von Recht und Zeit zwischen Frühmittelalter und Moderne. Umso erstaunlicher ist die verhältnismäßig geringe Beachtung dieser Zusammenhänge in der rechtshistorischen Forschung. Sein Aufsatz könnte das ändern – und damit genau das tun, was wir uns als Ergebnis der Lektüre dieses Heftes wünschen: zum Nachdenken über das Recht anzuregen.

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